Oberhausen. Von Trauer geplagt, finanziell am Limit: Wie Dirk und andere Trost und Unterstützung bei der Essensausgabe am Hauptbahnhof Oberhausen erhalten.
Es ist 19.13 Uhr und allmählich kriecht die Kälte durch meine Jacke, durch den Pullover und die Jeans. Meine Hände, die sich am Notizblock festhalten, sind gerötet und ich verfluche meine viel zu dünnen Strümpfe. Die Menschen um mich herum scheint der eisige Wind, der in den Oberhausener Hauptbahnhof hereinweht, nicht zu stören. Sie stehen Schlange für dampfend heiße Erbsensuppe, unterhalten sich in Grüppchen oder durchsuchen ganz vertieft die Kleidungsstücke an einem Ständer nach etwas Passendem. Ich schaue mich um und schäme mich. Während ich gleich ins Auto steigen und in meine warme Wohnung fahren werde, zu meiner Wolldecke und dem gefüllten Kühlschrank, überlegen einige hier, wie und wo sie die Nacht überstehen sollen.
Mitten im Getümmel steht Melanie Sawicki, gestützt von ihrer Gehhilfe. Sie hat eine Operation hinter sich und konnte deshalb zwei Monate lang nicht hierherkommen, zur Essensausgabe für Bedürftige am Oberhausener Hauptbahnhof. „Das hat mir gefehlt“, sagt sie und schaut zufrieden auf den Kleinbus, aus dem heraus die heutige Mahlzeit verteilt wird, und rüber zum Kleiderstand, hinter dem fünf freundliche Damen stehen, die sich alle 14 Tage freitags dazugesellen mit gespendeten Jacken, Schuhen und Hosen. Heute haben sie auch selbstgebackene Plätzchen dabei, Spritzgebäck. Es ist heiß begehrt.
„Die Hälfte ist obdachlos, die andere Hälfte ist nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, wegen psychischer oder anderer Probleme. Die werfen dann auch mal einen Fünfer in die Spardose.“ Melanie Sawicki kennt die Schicksale derer, die hier für eine warme Mahlzeit anstehen, sehr genau. Seit 2022 ist sie Vorsitzende beim Verein „Solidarität im Ruhrgebiet“ und steht seitdem Montag bis Freitag ab 18.30 Uhr mit gespendeten Mahlzeiten hinterm Bahnhof. Restaurants, Schulen und Kitas unterstützen das ehrenamtliche Engagement der Vereinsmitglieder. „Nur dienstags, da koche ich selbst“, sagt die 53-Jährige.
Obdachlose am Oberhausener Bahnhof: Vom Zahnarzt, der alles verlor
Ein etwas älterer Mann nähert sich, Brille, Bart. „Dickie!“, ruft Melanie Sawicki und umarmt ihn herzlich. Ist er ein alter Freund oder einer von jenen, die hier Trost suchen? Es ist nicht erkennbar. „Wenn wir die nicht hätten, dann wären wir arm dran“, sagt „Dickie“, der eigentlich Dirk heißt, und zeigt auf Sawicki, die eine abwehrende Bewegung macht. Dirk erzählt, dass er eine Wohnung hat, aber trotzdem nicht zurechtkommt. Es ist die Trauer, die ihn seit 14 Jahren schon quält. Seitdem seine Frau gestorben ist. „Sie fehlt mir an allen Ecken und Enden.“ Er holt ein Foto aus der zerknautschten Geldbörse hervor, zeigt es wie einen Beweis.
Obdachlos sei er nur einmal gewesen, erzählt Dirk: „Sechs Wochen. Das war Sch...eibenkleister.“ Er sei gelernter Hotel- und Gaststättenkaufmann, habe ein gutes Leben als Sohn eines Feinkostfabrikanten gehabt und schon auf der ganzen Welt gearbeitet. Als Rentner ist er jetzt dennoch arm. Warum? „Ich hab nix geklebt als Selbstständiger.“ Melanie Sawicki kennt noch mehr solcher Geschichten, „von Menschen, die alles hatten: Haus, Job, Kinder“. Wie der Zahnarzt, der bei der Essensausgabe auftauchte. Nach dem Tod ihres Kindes war seine Frau in der Psychiatrie gelandet, er selbst verlor seine Praxis. Eine ganze Existenz – zerstört.
„Ich hab schon oft gedacht: Warum tue ich mir das an?“, sagt Melanie Sawicki, die nicht mehr berufstätig ist und ihre Zeit dafür nutzt, anderen zu helfen. „Wenn man dann die dankbaren Augen sieht, da weiß man, das kommt von Herzen“, sagt sie. Deshalb sei ihr Engagement „ein Seelen-Ding“. Und dann die vielen tollen Gespräche, die sie hier führt. Melanie Sawicki zeigt auf eine kleine, alte Dame am Kleiderstand. Sie haben ihr einen Stuhl geholt, auf dem sie noch winziger wirkt. Unter der Wollmütze und schlohweißem Haar schauen zwei neugierige Augen und ein zerknittertes, freundliches Gesicht auf das Gewimmel um sie herum. Trotz rosa Teenager-Steppjacke strahlt sie eine Eleganz aus.
89-Jährige bei der Essensausgabe für Bedürftige: dankbar für die menschliche Wärme
Die alte Dame ist 89 Jahre alt, jeden Wochentag kommt sie zum Bahnhof gelaufen, vor allem, um Menschen zu treffen, wegen der Freundschaft und Gesellschaft, so sagt sie. Die weiße Plastikschüssel in ihren Händen beachtet sie nicht. Fast jeder kennt sie hier, winkt und ruft ihr etwas Nettes zu. Sie lächelt zurück. Wer mit ihr sprechen möchte, muss nah heran, die Ohren wollen nicht mehr so richtig. „Ich bin so begeistert von den Menschen, die das hier machen“, sagt sie. Früher habe sie als Verkäuferin gearbeitet, um unter Menschen zu sein. Heute komme sie hierher, um sich anzuschauen, „wie glücklich alle sind“.
Am glücklichsten von allen scheint Melanie Sawicki zu sein. Sie hat ihre Berufung gefunden. Als ihre Mutter starb, hat sie es nicht übers Herz gebracht, ihre Kleidung in einen Container zu werfen. Sie erfuhr vom Verein „Solidarität in Oberhausen“ und die Idee, die Sachen zu spenden und damit anderen etwas Gutes zu tun, gefiel ihr. Seitdem ist sie dabei und hat auch ihren Mann mit ins Boot geholt. Anatoli Sawicki (62) teilt neben seiner Arbeit als Maler und Lackierer zwei bis drei Mal pro Woche am Bahnhof das Essen aus, am Anfang des Monats 20 bis 25 Portionen, gegen Ende etwa 40.
Marc hat vor vier Monaten seine Wohnung verloren. Seitdem lebt er bei einer Freundin. „Ich gucke, dass ich überlebe“, beschreibt der 36-Jährige seinen Alltag. Dazu gehöre auch, irgendwie an Geld zu kommen, auf der Straße um etwas Kleingeld zu bitten oder auch, da will er ehrlich sein, anschaffen zu gehen. Marc, der sich als transsexuell bezeichnet und eigentlich gerne Andrea heißen würde, ist ratlos. „Für uns gibt es keine Hilfen“, beklagt er. Entweder werde er an Frauenberatungsstellen verwiesen oder aber genau dort abgewiesen, weil er doch biologisch betrachtet ein Mann sei. Während Marc/Andrea erzählt, sieht man es in Melanie Sawickis Kopf rattern. Sie werde sich etwas für ihn überlegen, sagt sie. Bis dahin gibt es Erbsensuppe. „Meine erste Mahlzeit“, sagt Marc/Andrea dankbar.
Wohnungslos in Oberhausen: Zwei Decken und eine Pappe für die Nacht
Ein unruhiger Geist, Mitte 40 vielleicht, kommt neugierig heran. „Was machst du hier? Warum bist du da? Machst du das freiwillig oder hat dich jemand hergeschickt?“ Er spricht im Stakkato und schaut dabei unverwandt in die Augen der Reporterin. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich ertappt. Ich bin gekommen, um etwas zu erfahren über die Lebensumstände von Menschen, die sonst kaum jemand wahrnimmt. Doch dieser Mann fragt sich offensichtlich, ob er gerade begafft wird wie ein Tier im Zoo. Es ist sein gutes Recht. Seit Jahren schon lebe er auf der Straße. Zwei Decken und eine Pappe brauche er für die Nacht. Die müsse er gleich noch irgendwo auftreiben. „Aber vorher muss ich noch kiffen“, sagt er, „damit ich das alles ertrage.“ Über die Straße sagt er: „Hier lernt man alles übers Leben, über die menschlichen Abgründe. Das ist wie in anderen Haushalten, nur dass es keine Türen gibt.“
Es ist unmöglich, dass ein paar Ehrenamtliche die komplexen Probleme lösen, mit denen sie hier alle kämpfen. Doch diesen Anspruch haben sie auch nicht und das erwartet keiner von ihnen. „Wir führen so tolle Gespräche hier“, sagt Melanie Sawicki. „Da bekomme ich Tränen in den Augen.“ Sie blickt auf das Schöne, das Positive; auf das, was den Gästen am Bahnhofsausgang Kraft gibt – und ihr auch. „Ich bin meinem eigenen Leben gegenüber viel demütiger geworden“, sagt sie.
>>> Hilfsaktion des Vereins „Solidarität im Ruhrgebiet“
Laut Aussage der Stadt Oberhausen wurden 137 Personen im Jahr 2024 obdachlos gemeldet (83 Männer, 40 Frauen und 14 Kinder). Im Vorjahr seien es 122 Personen gewesen (67 Männer, 30 Frauen, 25 Kinder). In Oberhausen gibt es verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung: Von städtischer Seite wird die Obdachlosenunterkunft an der Wewelstraße unterhalten. Dort stehen maximal 60 Plätze zur Verfügung, aber: Für jede obdachlose Person werde eine Notschlafstelle bereitgehalten. Daneben macht die Stadt auf weitere praktische und weitergehende Hilfen der freien Wohlfahrtspflege aufmerksam: Beratungs- und Unterstützungsangebote, aufsuchende Sozialarbeit, vorübergehende Aufenthaltsmöglichkeiten, Versorgungs-, Verpflegungs- und Kleiderangebot, Dusch- und Waschmöglichkeiten, Kälteschutz.
„Solidarität im Ruhrgebiet“ ist ein gemeinnütziger Verein, der mit Essensausgaben und Kleiderspenden die Lebensqualität von Menschen erhöhen will, die weit unter der Armutsgrenze leben. Das Motto: „Wir helfen dort, wo viele wegschauen“. Für die Versorgung der Obdachlosen in Mülheim und Oberhausen wird um folgende Spenden gebeten: Lebensmittel: Kaffee, Milchpulver, H-Milch, Zucker, Getränke, Zahnpasta, Zahnbürsten, Duschgel, Körpercreme, Einwegrasierer, Feuchttücher, Wund-/Heilsalbe, feuchtes Toilettenpapier, Küchenrollen, Putzmittel, Geschirrspülmittel. Weitere Infos und Kontakt: https://www.soli-ruhrgebiet.de/.