Oberhausen. Lena hat in ihrer Familie großes Leid erfahren. Mit 31 Jahren gelang ihr die Flucht. Uns erzählt die heute 33-Jährige ihre bewegende Geschichte.

„Jetzt muss ich keine Angst mehr haben.“ Mit diesem Satz beschreibt Lena (Name geändert) den Wendepunkt in ihrem Leben. Im Frühling 2022 floh die Oberhausenerin nach einem Leben voller Gewalt ins Frauenhaus. Mit 31 Jahren hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Raum nur für sich, den sie abschließen konnte – einen Schutzraum, der ihr half, neu anzufangen.

Für uns blickt Lena noch einmal zurück, erzählt uns ihre Geschichte. Auch, um Betroffenen Mut zu machen. Der Tag, an dem sich Lena entschied, bei der Oberhausener Frauenberatungsstelle Hilfe zu suchen, war ein regnerischer Tag im Frühling 2022. Die ersten Blumen begannen zu blühen, die Bäume schlugen aus. „Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass meiner Familie egal ist, ob ich tot oder am leben bin. Letztlich hätten die mich lieber tot als unabhängig von ihnen.“ Noch am selben Tag vermittelte die Beratungsstelle für Lena einen Platz im Frauenhaus.

Flucht vor der eigenen Familie: „Ich hatte Angst, erwischt zu werden“

Dann ging alles ganz schnell, erinnert sich Lena heute. Sie musste noch einmal nach Hause, um ein paar Sachen zu packen. Sie hatte nicht viel Zeit. „Ich hatte Angst, erwischt zu werden. Deswegen habe ich einfach nicht nachgedacht. Ich glaube, wenn ich da zu viel nachgedacht hätte, hätte alles im Chaos geendet. Es hat geholfen, dass es eine spontane Entscheidung war.“

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Am Abend habe sie nichts mehr gegessen oder getrunken, um nachts nicht auf die Toilette gehen zu müssen: „Wenn ich mich nachts auf Toilette schlich, kam mein Bruder aus seinem Schafzimmer und schrie mich an.“ Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie heimlich wichtige Dokumente zusammenpackte. So leise wie möglich floh sie aus ihrem Elternhaus. Sie musste es bis zum Hauptbahnhof schaffen, wo eine Mitarbeiterin des Frauenhauses sie abholen wollte. Bis sie dort ankam, hatte sie Todesangst: War ich leise genug? Verfolgt mich jemand?

Häusliche Gewalt: Es sind nicht immer Schläge, die schmerzen

Im Frauenhaus schüttet sie dem Team ihr Herz aus. „Ich wurde aber nicht geschlagen“, sagt sie den Mitarbeiterinnen. Fast entschuldigend. Den Expertinnen fällt dieses Phänomen immer wieder auf: Es gibt ein großes Missverständnis beim Thema häusliche Gewalt. Viele Menschen reduzieren Gewalt auf physische Übergriffe, auf Schläge oder Tritte. Doch häusliche Gewalt kann viele Formen annehmen: psychische, emotionale, sexuelle und ökonomische.

Die Vorstellung, dass Gewalt nur dann „zählt“, wenn sie physisch ist, führe dazu, dass viele Betroffene ihre Situation nicht ernst genug nehmen, um Hilfe zu suchen, wissen die Expertinnen. Frauenhäuser seien jedoch für alle Formen von Gewalt ein Schutzraum. Sie bieten Unterstützung, unabhängig davon, ob körperliche Gewalt vorliegt oder nicht.

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So wie bei Lena. Auch sie hat gezweifelt, die Ernsthaftigkeit ihrer Lage aber doch erkannt. Heute weiß sie, dass sie in eine dysfunktionale Familie hineingeboren wurde. In eine Familie, in der ständig Konflikte schwelten, in der man nicht offen miteinander reden konnte, in der es kein Vertrauen gab. „Was in diesem Haus passiert, bleibt in dem Haus“, war das Motto, nach dem gelebt wurde, erzählt Lena Nichts durfte nach außen dringen.

Besonders die Mutter habe ihr das Leben nicht leicht gemacht. Privatsphäre sei ein Fremdwort gewesen, emotionaler Schmerz prägte Lenas Alltag. Ein besonders schlimmer Vorfall hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt: Zur Strafe sei sie im Garten mit kaltem Brunnenwasser abgespritzt worden – obwohl sie an einer Kälteallergie leide. „Ich hatte Todesangst. Die Allergie sorgt dafür, dass sich Quaddeln auf meiner Haut bilden. Im schlimmsten Fall kann es aber sogar zu einem lebensbedrohlichen Schock führen. Davor hatte ich Angst.“

Häusliche Gewalt: Tortur wurde auch noch fotografiert

Und noch mehr: Genau von diesem schrecklichen Moment, in dem Lena versucht, sich in ihrem himbeerroten Oberteil im hohen Gras im Garten vor dem kalten Wasser zu schützen, gibt es Fotos. Diesen Moment, in dem sie litt und keine Fluchtmöglichkeiten hatte, haben die Eltern festgehalten, um ihn Lena alle paar Wochen vorzuhalten. Dies ist nur ein Beispiel der Gewalttaten, die Lena erlebte. „Ich bin damit groß geworden, ich kannte es nicht anders.“

Lena ist nur eine von Millionen Frauen weltweit, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Darauf macht jährlich die sogenannte Orange Week aufmerksam, eine Kampagne der Vereinten Nationen. Unter dem Motto „Orange the World“ werden markante Gebäude orange angestrahlt, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Lokale Gruppen und Initiativen begleiten die Aktionswoche mit Aktionen und Info-Kampagnen.

Um auf das Thema Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen, leuchten auch in Oberhausen markante Gebäude orange. Das Foto aus dem Jahr 2021 zeigt das Werksgasthaus an der Essener Straße.
Um auf das Thema Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen, leuchten auch in Oberhausen markante Gebäude orange. Das Foto aus dem Jahr 2021 zeigt das Werksgasthaus an der Essener Straße. © FUNKE/Fotoservices | Gerd Wallhorn

In Oberhausen engagiert sich unter anderem der Zonta-Club für die „Orange Week“, der lokale Ableger der internationalen Vereinigung von sozial engagierten Frauen. Ingelore Engbrocks engagiert sich seit vier Jahren bei Zonta und erklärt die diesjährige Aktionswoche: Zentraler Bestandteil der Kampagne in Oberhausen ist die „Orange Bank“: Eine leuchtend orangefarbene Sitzbank, die im Stadtbild, immer an verschiedenen Orten, präsent ist. Die Farbe Orange stehe dabei für eine Zukunft, in der Frauen nicht mehr Opfer von Gewalt werden. Engbrocks erläutert einen weiteren wichtigen Zweck der Bank: Auf Ihr finden Betroffene Hinweise mit Adressen und Telefonnummern, wo sie Hilfe erhalten können.

„Wir müssen uns stärker für den Schutz und die Rechte von Frauen einsetzen.“

Britta Costecki
Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Oberhausen

Auch Oberhausens Gleichstellungsbeauftragte Britta Costecki liegt das Thema am Herzen: „Gewalt gegen Frauen ist ein drängendes gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft. Wir müssen uns stärker für den Schutz und die Rechte von Frauen einsetzen.“ Die Zahlen seien erschreckend: In Deutschland ist jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von körperlicher oder sexualisierter Gewalt betroffen – das sind mehr als zwölf Millionen Frauen. Alle 45 Minuten wird eine Frau durch ihren Partner gefährlich verletzt, und jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet.

Lenas Geschichte zeigt eindringlich, wie wichtig solche Aufklärungs- und Unterstützungsangebote sind. Nach vier Monaten im Frauenhaus wohnt Lena mittlerweile in ihrer ersten eigenen Wohnung. Ohne Hilfe, sagt sie, hätte sie das nicht geschafft. Im Frauenhaus habe sie das erste Mal aufatmen können. „Ich konnte mich endlich selbst kennenlernen, unabhängig von anderen Menschen. Ich wusste ja nicht einmal, welche Kleidung ich eigentlich gerne trage.“

Der Zonta-Club Oberhausen und die markante orangefarbene Bank, die auf das Thema Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen soll.  
Der Zonta-Club Oberhausen und die markante orangefarbene Bank, die auf das Thema Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen soll.   © Zontaclub Oberhausen

Mit ihrem vorherigen Leben hat sie abgeschlossen, hat keinen Kontakt mehr zur Familie. Es sei ein langer Prozess gewesen, dort anzukommen, wo sie heute ist: an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie endlich glücklich sein kann. Sie muss fortan keine Angst mehr vor ihrer Familie haben und das Frauenhaus habe eine große Rolle für Lenas Werdungsprozess gespielt, sagt sie.

Heute verarbeitet sie ihre Erlebnisse durch Schreiben und hilft anderen Betroffenen mit ihrer Geschichte, Mut zu schöpfen. Nach dem Abitur und einem abgebrochenen Studium möchte sie sich auch beruflich verändern und helfen – als Sozialarbeiterin. Ihre Botschaft ist klar: Es gibt einen Weg aus der Gewalt – mit Hilfe von Solidarität, Schutzräumen und Aufklärung.