Oberhausen. Während Mutter und Schwester sich in den Bunker flüchteten, blieb Egon Berchter allein im Haus. „Ein verführtes Kriegskind“ erinnert sich. Den Gedanken an ein selbst verfasstes Erinnerungsbuch hat der 85-jährige Ehrenvorsitzende der Lebenshilfe ad acta gelegt. Dabei war sein Schicksal dramatisch.
Akribisch hat sich Egon Berchter vorbereitet auf das Gespräch über „ein verführtes Kriegskind“, wie er sich selbst nennt. „Ich habe mir so viele Stichworte notiert“, sagt der 85-jährige Ehrenvorsitzende der Lebenshilfe. Sogar zu einem Buch über die Kriegsjahre hatte er schon angesetzt. „Neun Seiten habe ich geschrieben“ – er holt tief Luft – „und aufgehört“. Sein Schicksal sei ja doch kein besonderes gewesen.
Es war dramatisch – seit jenem Tag, „als die Kindheit vorbei war“. Voll kindlicher Neugier lief der damals Zehnjährige in die Ritterstraße, um das erste vom Luftkrieg zerstörte Haus in Oberhausen zu sehen. „Wir waren erschrocken.“ Das bange Gefühl, „dass da Schlimmes auf uns zukommt“, verstärkte sich noch, als die Jungen seiner Schulklasse Gasmasken aufsetzen mussten „und dann wurde die Dichtigkeit geprüft“. Die Kindheit des Eisenheimer Jungen war vorbei.
Der verhasste Drill und Schliff
Sein Elternhaus, der Vater war Aufsichtsbeamter bei der GHH-Werkseisenbahn, stand außerhalb der Siedlung in der Provinzialstraße, heute Sterkrader Straße. „Geboren bin ich als Westfale, 1929 wurden wir Rheinländer.“ Für den Schüler Egon Berchter war Eisenheim Idyll und „Schmelztiegel“ der Nationen.
Er wäre zu gerne geblieben, man hört’s sofort heraus, „aber ich musste ja immer wieder weg, so war das damals“. Wohin? Zur Kinderlandverschickung nach Sillein (heute Zilina) in der Slowakei. Zum Reichsarbeitsdienst in das von der Bevölkerung geräumte Kleve, „um Panzergräben auszuheben“. Und schließlich noch zum Reichsarbeitsdienst – auch dies eine vormilitärische Ausbildung: Drill und Schliff und der verhasste „Hart wie Kruppstahl“-Spruch.
Hass auf die Feinde
Die Bombennächte in Oberhausen erlebte Egon Berchter zwischen diesen Einsätzen, „wenn ich mal wieder zu Hause war“. Ganz gelassen sagt der 85-Jährige den Satz: „Mutter ging mit meiner Schwester auf dem Arm in den Bunker. Ich schlief alleine im großen Haus.“ Hat sie ihren Ältesten nicht gedrängt mitzukommen? Doch der Junge wollte „den Engländer“ hören, die deutschsprachigen Meldungen der BBC.
Die HJ-Schleifer und seinen Lehrer, „einen Nazi durch und durch“ ertrug der 15-Jährige mit Verachtung. Aber auch er spürte einen Hass auf die Feinde – nach einem verheerenden Luftminen-Angriff, bei dem 41 Eisenheimer starben. „Mutter und Schwester waren gerade in der Bunker-Schleuse.“ Eine Nachbarin und ihr Kind hatten es nicht mehr geschafft und waren umgekommen. „Da wollte ich mich freiwillig melden: zu den Panzergrenadieren, zur Marine.“
Er wurde – noch – nicht genommen. Egon Berchter beschreibt ein nächtliches Bombardement, als die Familie den Bunker nicht mehr erreichen, sondern nur noch in den Keller flüchten konnte.
Ein Durchbruch zum Nachbarkeller
„Ich wollte mutig sein, habe den Starken markiert, aber meine Knie schlotterten.“ Im Keller war zu den Nachbarn ein Durchbruch geöffnet und nur provisorisch wieder zugemauert worden – falls die eigene Kellertür verschüttet worden wäre.
Egon Berchter wurde dann doch noch Grenadier – als 16-Jähriger. „In der Lüneburger Heide erhielt ich meine Uniform“. Die Soldaten meinten, es könnte bald – und zwar an der Seite von Briten und Amerikanern – gegen die Rote Armee gehen. Stattdessen ging’s in britische Gefangenschaft nach Eutin. In der Nähe, im Schloss Plön, hätte er nach dem Willen seines Nazi-Lehrers ein „Napola“-Internat besuchen sollen, eine der NS-Eliteschulen. Sein Vater hätte damals wohl zugestimmt; seine Mutter war strikt dagegen. „Gott sei dank“, sagt Egon Berchter.
Der lange Weg nach Hause
„Später habe ich mich gefragt“, sinniert der heute 85-jährige Vater dreier Kinder, „wie sich unsere Eltern gesorgt haben müssen“. Monatelang hatten die Eltern Berchter keinen Kontakt zu ihren beiden Söhnen. Der Jüngere kehrte nach Kriegsende „zu Fuß alleine von der Kinderlandverschickung aus Tschechien zurück“, erzählt Egon Berchter.
Er selbst, der Ältere, galt zu Hause in Eisenheim als tot, vermeintlich gefallen während eines Tieffliegerangriffs. So hatte es ein Mitschüler seinen Eltern erzählt. Tatsächlich wurde ein viel banalere Situation für den 16-jährigen Grenadier lebensgefährlich: Um das Fahrrad seines Unterfeldwebels reparieren zu lassen, hatte sich der jugendliche Soldat kurz von der „Truppe“ entfernt – und wurde prompt von den gefürchteten Feldjägern verhaftet. „Zu viert haben sie mich abgeführt. Ich hatte Todesangst.“ Gerade noch rechtzeitig tauchte sein Feldwebel auf.
Hunger, Läuse, Durchfall sind Erinnerungen an die kurze Kriegsgefangenschaft. Im August 1945 durfte der Junge heimkehren. Als „symbolisch für die damalige Zeit“ sah Egon Berchter das letzte Hindernis, ehe er endlich Eisenheim erreichte: „Die Brücke lag im Kanalbett. Der Kanal hatte kein Wasser mehr.“ Er ist also hinunter und wieder hinauf geklettert.
Ein letztes Erschrecken: Das Elternhaus war zerstört. „Die Nachbarn wussten, wo meine Eltern waren.“ Der vermeintlich von Tieffliegern erschossene Sohn war nach dem Vater und dem jüngeren Bruder, „der letzte, der zurück kam“. Egon Berchter seufzt erleichtert: „Dann war ich wieder Lehrjunge.“ Viel hatte er bei der GHH noch nicht gelernt während seiner Ausbildung in Kriegszeiten. Nur soviel: Als „Stift“ musste der künftige Industriekaufmann die Schreibmaschinen in einem Bunker-Abstellraum verstauen. Für die Sicherheit der Büro-Ausstattung sollte auch im Bombenkrieg gesorgt sein.