Mülheim. Ungemütlicher, aufmüpfiger war kaum ein anderer Mülheimer Politiker. MBI-Gründer und Polit-Unikat Lothar Reinhard ist verstorben. Ein Nachruf.
„Wichtiger aber war es, die Stimmung mitzubekommen, die bei nicht wenigen herrscht, eine explosive Mischung zwischen Resignation und totaler Wut gegen alle Parteien, daneben aber auch ein sehr deutlicher Zuspruch, dass wir uns zur Wahl stellen.“ Dieser Satz, tatsächlich schon vor gut 25 Jahren niedergeschrieben, stammt von einem Mann, der Mülheims Polit-Establishment ein Vierteljahrhundert lang kräftig auf die Füße gestiegen ist: Lothar Reinhard, Gründer und Vordenker der Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI), ist in dieser Woche nach langer und schwerer Krankheit verstorben. Ein Nachruf.
Es war das politische Jahr 1999 in Mülheim, das Lothar Reinhard nach oben spülte, ihn zum Sprachrohr machte, aus dem laute Fundamentalkritik schallte. Das Landesverfassungsgericht hatte soeben die Fünf-Prozent-Sperrklausel für Kommunalwahlen gekippt. Reinhard und andere erkannten ihre Chance, in Mülheim ihr eigenes politisches Ding zu machen, sich aufzubäumen gegen die Macht im „Roten Rathaus“ und die allererste schwarz-grüne Ratskoalition in einer deutschen Großstadt, die damals ihre erste Wahlperiode in Mülheim auf die Zielgerade brachte.
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Entfremdung bei Mülheims Grünen: „Lothar Reinhard war kein Mann des Kompromisses“
Reinhard war zuvor - in wilder, unorganisierter Zeit - für Mülheims Grüne aktiv, 1979 bei der Kommunalwahl war er gar ihr Spitzenkandidat gewesen. Doch mit Schwarz-Grün (ab 1994) wurde er nicht warm. Nicht nur inhaltlich, auch menschlich gab es Reibereien bei den Grünen, so erzählen es Zeitzeugen. Kompromisse, die das Ratsbündnis der beiden ungleichen Parteien erforderte, seien für Reinhard inakzeptabel gewesen. „Lothar Reinhard war kein Mann des Kompromisses“, beschreibt ihn ein Grüner, der die Zeit damals miterlebt hat. Ob es nun die Kompromisse waren, die Mülheims erste grüne Dezernentin Helga Sander in der Bau- und Planungspolitik eingehen musste, oder aber die mit Beteiligung der RWE-Tochter Rhenag initiierte Gründung der Medl: Reinhard fremdelte zusehends mit den Zwängen zum Konsens, die die Ratskoalition mit der CDU mit sich brachte.
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Die Genese der Entfremdung war längerer Natur, am Ende stand, dass die Grünen Reinhard als sachkundigen Bürger zurückpfiffen. Im Sommer 1999, als die Fünf-Prozent-Hürde gefallen war, entschlossen sich Reinhard und andere Grüne, etwa Ludwig Matthes oder Heidelore Godbersen, die Wählergemeinschaft der MBI zu gründen - in tiefer Abscheu gegen die politischen Mitbewerber in der Stadt. Das Archiv der MBI-Webseite steht dafür eindrucksvoll Zeuge. Reinhard wurde über die Jahre nie müde in seiner schallenden Kritik an Verantwortungsträgern in Verwaltung und Politik.
In Mülheims Rathaus: Kaum jemand, der nicht Reinhards Fett abbekam
Mit provozierenden Pamphleten sprach er all diejenigen in der Stadt an, die Mülheim schon früh auf einem absteigenden Ast sahen. „Von Müllerheim bis Spechtania“ sah Reinhard die Stadt mit Anspielung auf SPD-Ikone Gerd Müller und CDU-Oberbürgermeister Hans-Georg Specht dem Abgrund entgegentrudeln, in Kumpanei und Dilettantismus vereint. Ob die späteren OB Jens Baganz oder Dagmar Mühlenfeld, ob Kämmererer Uwe Bonan oder Frank Mendack: Kaum jemand, der nicht Reinhards Fett abbekam.
Reinhard hatte schon zu Zeiten bei den Grünen sehr viel Zeit in sein politisches Ehrenamt investiert. In den 1980er-Jahren war er als junger Lehrer einige Jahre im Osten Simbabwes gewesen, um sich dort mit anderen Mülheimer Mitstreitern nach der gewonnenen Unabhängigkeit für den Aufbau eines Bildungswesens zu engagieren. Reinhard kam krank wieder, ihm wurde Erwerbsunfähigkeit attestiert. So blieb viel Zeit fürs Politische. „Er war sehr agil, hatte eine sehr große Bürgernähe“, erinnert sich eine Grünen-Politikerin an jene Zeit. In dieser Zeit habe Reinhard seinen Politikstil verfestigt: „Bei ihm war es kein Kampf für etwas, sondern immer gegen etwas.“
Die MBI schafften gleich 1999 noch den Sprung in Mülheims Stadtrat
Die MBI schafften gleich 1999 noch den Sprung in den Stadtrat, mit Reinhard als treibende Kraft, als Fraktionschef von Beginn an. Da war Reinhards Kampf gegen Ruhrbania, gegen die Luftschadstoffbelastung rund um den Schrottbetrieb Jost an der Weseler Straße, der Kampf gegen „Kirchturmpolitik“ im ÖPNV, gegen die enge Verzahnung von Stadt und RWE, gegen Bauwut, „Filz“, kostspielige „Gutachteritis“ der Stadt, die „Haushaltskatastrophe“ oder bis zuletzt den „VHS-Skandal“.
Das eine oder andere Mal ist Reinhard hart an der Grenze zum Populismus unterwegs gewesen, unverrückbar seine politischen Muster. Reinhard hat aber, und das halten ihm selbst einige seiner einstigen Mitstreiter bei den Grünen heute noch zugute, Debatten angestoßen, mit aller Vehemenz die andere Sichtweise in sie reinzubringen versucht. Und Reinhard hat nicht selten auch frühzeitig „den Finger in die Wunde gelegt“, wo das politische Mülheim ringsum noch nicht bemerkt hatte, dass da etwas in eine völlig falsche Richtung lief.
Reinhard blieb unerhört, erntete Kopfschütteln, empörte Zwischenrufe
Reinhard hat früh erkannt, welcher Irrweg Finanzierungen kommunaler Infrastruktur in öffentlich-privater Partnerschaft (ÖPP) sind, dass die Stadt jahrelang misswirtschaftete und über ihre Verhältnisse lebte. Oft streckte Reinhard bei Sitzungen im Rathaus seinen hageren Zeigefinger mahnend in die Luft, blieb unerhört, erntete Kopfschütteln, empörte Zwischenrufe. In den vergangenen Jahren hat die Stadt einige dieser Millionengräber teuer abräumen müssen. Aktuell noch hat Kämmerer Frank Mendack mit der Schadensbegrenzung zu tun, will die Feuerwache zurückkaufen, auch so bald als möglich wieder Hausherr werden in den drei ÖPP-Gymnasien.
Stadtrat-Urgestein Reinhard hat viele, viele Stunden, oft bis in die Nacht hinein in der MBI-Geschäftsstelle Unterlagen gewälzt, seine Sicht auf die Dinge niedergeschrieben, sie mit lauter Empörung nach außen getragen. Viele Freunde hat er sich damit in Politik und Rathaus nicht gemacht. Trotzdem: Man kannte sich, man duzte sich gar.
Stadt Mülheim verlieh dem widerspenstigen Politiker 2013 den Ehrenring
2013 erhielt, wie es für langjähriges politisches Ehrenamt in Mülheim üblich ist, auch der widerspenstige Lothar Reinhard den Ehrenring der Stadt. „Seit vielen Jahren setzen Sie sich für bürgerschaftliche Anliegen ein, investieren dabei Zeit, Kraft und Kreativität, um Impulse für das Stadtgeschehen zu geben. Wir kennen Sie als engagierten und streitbaren politischen Menschen, der sich mit Nachdruck in die Arbeit vor Ort einbringt“, sagte damals Bürgermeister Markus Püll (CDU) zur Würdigung. Unbequem sei Reinhard im Politikbetrieb, aber auch akribisch, leidenschaftlich und vehement. Bezeichnend, dass OB Dagmar Mühlenfeld die Ehrung - aus allerdings unbekanntem Grund - schwänzte.
Weitere zehn Jahre nach seiner Ehrung war Reinhard Mastermind der MBI-Bewegung. Zuletzt ließen die Kräfte nach schwerer Erkrankung nach. Reinhards Büro an der Bachstraße, auch sein Sitz im Ratssaal blieb des Öfteren verwaist. Ein leiser Abschied von einem, der laustark Politik gemacht hat. Die MBI, schon bei der vergangenen Kommunalwahl längst nicht mehr so erfolgreich wie zuvor, haben einen schweren Verlust erlitten. Sie werden sich neu erfinden müssen.
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