Mülheim. Der Krieg in der Ukraine vertrieb sie aus ihrer Heimat, ihr Zuhause ist kaputt. Wie sich Familie Pashchenko in Mülheim ein neues Leben aufbaut.
Seit knapp 1000 Tagen herrscht in ihrer Heimat Ukraine Krieg, ein Friedensschluss scheint nicht in Sicht. Um den Bomben zu entkommen, flohen tausende Menschen - auch nach Mülheim. Insgesamt 1919 ukrainische Kriegsflüchtlinge leben nach Angaben der Stadt aktuell in der Ruhrstadt. Elvira Pashchenko, ihre beiden Kinder und ihre Eltern gehören dazu.
Etwa eine Woche trennte ihn noch von der Volljährigkeit, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Zu unsicher, gar bedrohlich sei die Situation für ihn als jungen Mann gewesen, sodass seine Familie ihn noch vor seinem 18. Geburtstag außer Landes schickte, blickt Vladyslav Pashchenko zurück. „Der Krieg hat am 24. Februar 2022 begonnen, am 4. März bin ich 18 Jahre alt geworden“, schildert der inzwischen 20-Jährige, wie nah er daran war, möglicherweise an die Front eingezogen zu werden.
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Mutter und Tochter aus der Ukraine leben in Mülheim auf 49 Quadratmetern
Der Gefahr ist der junge Mann durch seine Flucht entronnen, seit rund zweieinhalb Jahren lebt er nun in Deutschland. Inzwischen haben auch seine Mutter, seine jüngere Schwester und schließlich die Großeltern - nach reichlich Überzeugungsarbeit - in Mülheim ein neues Zuhause gefunden. Auf 49 Quadratmetern wohnt Mutter Elvira nun mit ihrer Tochter Yevheniia. „Jetzt haben wir jeder ein Zimmer“, beurteilt Elvira Pashchenko ihre aktuelle Wohnsituation mehr als positiv.
Ihre Flucht führte sie zunächst nach Polen: „Doch dort hätten wir nicht die Möglichkeiten gehabt wie hier. Es war ein langer Weg nach Deutschland.“ Ihre erste Unterkunft in Mülheim war das Flüchtlingsdorf an der Mintarder Straße. „Camp“ nennt die 40-Jährige die Unterbringungsart, die sie schon von einer Zwischenstation in Neuss kannte. Schließlich konnte die Familie das Camp verlassen und in eine von der Stadt vermittelte Wohnung an der Friedrich-Ebert-Straße ziehen - dort wohnten sie zu fünft, gemeinsam mit den Großeltern, die nach wie vor in der Stadtmitte leben. Ihr Sohn Vladyslav ist kürzlich nach Düsseldorf in ein Wohnheim gezogen, denn der Herzenswunsch des jungen Mannes hat sich erfüllt: Er hat in der Landeshauptstadt eine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen.
Junger Ukrainer floh vor dem Krieg, kurz bevor er volljährig wurde
Als wir Vladyslav im Frühjahr das erste Mal treffen, erzählt er davon, dass er weiterkommen will, aufbauen möchte auf das Wissen, das er während der ersten Semester seines BWL-Studiums in der Ukraine gewonnen hatte, bevor er fliehen musste. „Von meinen damaligen Mitstudenten höre ich, dass sie sich wegen des Krieges verstecken müssen“, schildert der 20-Jährige, dessen Familie nahe der stark umkämpften Stadt Donezk gelebt hat. „Teils ist die Frontlinie nur fünf Kilometer von unserem Zuhause entfernt“, berichtet Elvira Pashchenko. Die 40-Jährige hat in ihrer Heimat als Agrarwissenschaftlerin für ein großes staatliches Unternehmen gearbeitet, erzählt sie. „Ich bin spezialisiert auf Pflanzen und habe 20 Jahre Erfahrung in dem Bereich, finde hier aber nichts Vergleichbares, auch wenn ein Teil meines Diploms anerkannt würde.“
Nachdem ihr Mann während der Corona-Pandemie gestorben war, musste sie alleine für ihre beiden Kinder sorgen. Hier in Mülheim, nach ihrer Flucht gemeinsam mit der jugendlichen Tochter, die inzwischen die Willy-Brandt-Gesamtschule besucht, will die Ukrainerin sich neu ausrichten. „Wir können nicht mehr zurück“, das erscheint ihr mittlerweile als sicher. Ihre Wohnung sei zerstört. Und selbst wenn der Krieg ende, gebe es in der Ukraine keinerlei Unterstützung zum Leben.
40-Jährige aus der Ukraine will in Mülheim noch einmal studieren
Dass ihr Sohn nun eine Ausbildung zum Bankkaufmann macht, sein Deutsch derart gut ist, dass er sich problemlos verständigen kann, er gar schon über ein Studium nachdenkt und dabei Internationales Recht vor Augen hat, macht die zweifache Mutter sichtlich stolz. Sie ist überzeugt: „Wer gute Arbeit machen will, braucht eine gute Bildung.“ Ihr Sohn, der jetzt auf eigenen Füßen steht und erzählt, dass er nun eine Ausbildungsvergütung bekomme, Steuern zahle und Sozialabgaben leiste, sagt zufrieden: „Vorher habe ich Sozialhilfeleistungen bezogen, jetzt kann ich etwas zurückgeben.“
„Ich denke an meine Zukunft, an die Rente“, sagt auch Elvira Pashchenko. Hier in Mülheim hatte sie zunächst einen Minijob in einem Blumenladen. Doch sich und ihre Familie nur damit über Wasser zu halten, genüge ihr nicht. Nachdem sie erst überlegt hatte, eine Umschulung zur Bürokauffrau zu machen, hat sie jetzt andere Pläne: „Ich will Umwelttechnik an der HRW studieren.“ Die 40-Jährige besucht zur Vorbereitung einen Studierenden-Integrationskurs, den auch ihr Sohn absolviert hatte. „Wir müssen ein Ziel haben, um aufzutanken, um Motivation zu schöpfen“, darin sind Mutter und Sohn sich einig.
Bruder wurde bei Bombardierung in der Ukraine durch Splitter verletzt
Nach wie vor besucht Elvira Pashchenko Deutschkurse, lernt inzwischen mit ihrer 69 Jahre alten Mutter gemeinsam, die einst als Schülerin in der Ukraine etwas Deutsch gelernt hatte. Die Seniorin erzählt über die Lage in ihrer Heimat: „Unsere Familie hat alles verloren, unsere Stadt wird täglich bombardiert.“ Ihr Sohn, der Bruder von Elvira, wurde bei einer Bombardierung verletzt und durch Splitter verwundet, leide seitdem unter Rückenschmerzen.
Sie würden sich wünschen, dass auch er nach Deutschland käme. „Er hat tiefe Kenntnisse am Computer und kann gut Englisch. Er hätte hier sicher bessere Chancen, Arbeit zu finden, als dort“, erzählt die Ukrainerin. Immerhin sei er inzwischen umgezogen, weiter weg von der Frontlinie. Doch das Land zu verlassen, kam für ihn bislang nicht infrage, erzählt der 20-jährige Vladyslav über seinen Onkel. Der Opa, 75 Jahre alt, könne das nachvollziehen: „Er möchte zurück nach Hause. Er sagt das jeden Tag. Doch es gibt dort keine Lebensmittel, keine Hilfe.“ Die Lage sei aussichtslos.
Ukrainerin besucht mit ihrer 69-jährigen Mutter Deutschkurse in Mülheim
Dass ihre Familie hier gute Möglichkeiten habe, sich zu integrieren, macht Elvira Pashchenko zutiefst dankbar: „Die Gruppe in den Sprachkursen ist so toll, wir erfahren viel Unterstützung. Deutschland bietet uns gute Chancen.“ Dass ihre Tochter von der Schule aus bereits Praktika machen kann, etwa in einer Zahnarztpraxis, sei hervorragend. „Das ist gut für die Motivation und bietet Anreize, nach der Schule eine Ausbildung zu machen. Das Schulsystem in der Ukraine biete diese Möglichkeit nicht.“
Die zweifache Mutter strahlt, wenn sie von ihrem Leben in Mülheim erzählt, sie versprüht Tatkraft und scheint gewiss, dass ihre Zukunft Gutes für sie und ihre Familie bereithält - an einem Ort fern ihrer Heimat, der zu ihrem neuen Zuhause wurde. Nur wenige Schritte von ihrer Wohnung in Broich entfernt liegt das, was Elvira ihren Lieblingsplatz in Mülheim nennt: Der Park, der sich um den Fossilienweg schlängelt. „Hier fühle ich mich besonders wohl“, sagt sie mit Blick auf das viele Grün. Es scheint, Familie Pashchenko ist gekommen, um zu bleiben.
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