Mülheim. Viele Mülheimer Erstklässler haben massive Sprachprobleme, zeigen neue Zahlen. Für die Grundschulen stellt das eine immense Herausforderung dar.
Für 38,5 Prozent der Mülheimer Kinder, die im Sommer 2023 eingeschult worden sind, ist Deutsch nicht die erste Sprache. Knapp ein Drittel dieser Gruppe - und damit mehr als jeder zehnte Schulanfänger - beherrschte Deutsch zum Schulstart kaum oder gar nicht. Für die hiesigen Grundschulen ist das eine immense Herausforderung. Zehn Jahre zuvor, also 2013, waren die Zahlen noch deutlich besser, zeigt eine Auswertung des Landeszentrums Gesundheit NRW, die der Redaktion auf Nachfrage nun von Mülheims Stadtverwaltung vorgelegt wurde.
2013 hatten zwar auch schon 32,1 Prozent der i-Dötzchen eine andere Muttersprache, aber nur 13,1 Prozent dieser Kinder sprachen Deutsch sehr schlecht oder gar nicht. Fachleute beurteilen Sprachkenntnisse von Erstklässlern als unzureichend, wenn diese sich nur „radebrechend“ auszudrücken wissen oder die Sprache gar nicht kennen, erläutert Mülheims Stadtsprecherin Sindy Peukert nach Rücksprache mit dem Gesundheitsamt. Von „ausreichenden“ Kenntnissen spreche man hingegen auch dann schon, wenn noch „erhebliche Fehler“ gemacht werden, das Kind aber „flüssig“ redet.
Wie es um die Mülheimer Schulanfänger 2024 bestellt ist, ist noch unklar: Die Daten fehlen noch
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Laut Peukert achten die Experten unter anderem auf Wortschatz und Grammatik, Pluralbildung und Präpositionswahl sowie auditive Merkfähigkeit, also das Vermögen, sich allein durch Hören Informationen zu beschaffen und diese zu behalten. Wie es um die Schulanfänger 2024 bestellt ist, ist noch unklar. Die Daten liegen der Stadt noch nicht vor. Auch von knapp zehn Prozent der Erstklässler 2023 fehlt bis heute die Sprach-Einschätzung.
Die Grundschulen haben noch weitere Sprach-Schwierigkeiten zu bewältigen: Unabhängig von der Muttersprache wurde 2023 bei 38,7 Prozent aller Erstklässler „ein auffälliger Sprachbefund“ festgestellt, besagt die Statistik. Zehn Jahre zuvor war dies bei gerade 27, 1 Prozent der Schulanfänger der Fall. Unter einen solchen Befund fallen zum Beispiel logopädische Probleme. „Aber auch Dysgrammatismus“, so Peukert, „also Sprachentwicklungsstörungen, bei denen Kinder nicht in der Lage sind, Sätze altersgemäß zu bilden.“ Das sei etwa der Fall, wenn sie grammatikalische Regeln bei der Bildung von Sätzen und Beugung von Wörtern falsch anwenden, wenn sie Satzteile verdrehen oder weglassen, wenn sie falsche Artikel verwenden. Auch um herabgesetzte auditive Merkfähigkeit gehe es.
Selbst nach drei Jahren Kindergarten sprechen viele Kinder nur mangelhaft Deutsch
Um die betroffenen Jungen und Mädchen nach Schuleintritt möglichst schnell fit zu machen, fördern die Grundschulen sie oft sehr individuell, „teilweise haben sie sogar zusätzliche Lehrkräfte für die Deutschförderung“, erklärt Peukert. Es sei übrigens längst nicht in jedem Fall so, dass die Jungen und Mädchen bis zur Einschulung keinerlei Kontakt zur deutschen Sprache hatten. Im Gegenteil: Die nun vorgelegten Zahlen zeigen, dass es zum Spracherwerb manchmal nicht mal reichte, drei Jahre lang in einen deutschen Kindergarten zu gehen. Gut zehn Prozent der Kleinen hatten selbst nach dieser langen Zeit keine ausreichenden Deutschkenntnisse erworben. Und weitere knapp 20 Prozent machten nach wie vor erhebliche Fehler beim Sprechen.
Dennoch, für die Experten ist klar: je kürzer die Kitazeit, desto größer das Sprachproblem. Laut Peukert, die sich auch darüber intensiv mit dem Gesundheitsamt ausgetauscht hat, ist ein Kitabesuch „absolut essenziell“, um fit zu werden für die Schule. Nur wer schon früh und dann auch regelmäßig, also mehrere Stunden täglich, in den Kindergarten gehe, könne vor Schuleintritt überhaupt ausreichend Deutschkenntnisse und auch Fertigkeiten in anderen Bereichen erlangen. Allerdings sei es dabei wichtig, sich nicht nur mit Kindern zu unterhalten, die die gleiche Herkunftssprache haben, sondern auch durchaus mal zu anderen Mädchen und Jungen Kontakt aufzunehmen.
„Wir haben Kinder, die bei der Einschulung kein Deutsch sprechen und später Klassenbeste sind“
Für Schulamtsdirektorin Heike Freitag, die mit den Entwicklungen seit Jahren vertraut ist, ist es wichtig, bei den Sprachauffälligkeiten genau hinzuschauen. „Es gibt verschiedene Ursachen dafür.“ Kinder, für die Deutsch Zweit- oder Drittsprache sei, könnten dieses Defizit oft vergleichsweise schnell aufholen, und zwar mit der Hilfe sozialpädagogischer Fachkräfte oder Alltagshelfer. „Wir haben Kinder, die bei der Einschulung kein oder kaum Deutsch sprechen und ein oder zwei Jahre später Klassenbeste sind.“
Nicht selten gebe es aber auch Kinder, die ohne Migrationshintergrund Auffälligkeiten zeigten, teils im Sprachgebrauch und -erwerb, viel öfter aber noch hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung. „Wir beobachten immer mehr eine schwindende Frusttoleranz und eine wachsende Unselbstständigkeit.“ Ein Trend, der stetig wachse, wie Heike Freitag berichtet. „Es sind die letzten drei Jahre, würde ich sagen. Da werden zunehmend keine gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen, die Kinder essen vorm Tablet.“ Dabei sei gerade der Kontakt zu anderen Menschen, gerade zu gleichaltrigen Kindern für die soziale Entwicklung elementar.
Schulamtsdirektorin setzt auf individuelle Förderung
Um auf die Kinder angemessen eingehen zu können, sei ein individueller Ansatz der Schlüssel. „Wir müssen schauen, wo Stärken und Schwächen eines jeden Einzelnen liegen“, so die Schulamtsdirektorin. Und eines, sagt sie, sei ihr besonders wichtig: „Kinder, die zum Schulbeginn kein Deutsch sprechen, sind nicht Bildungsverlierer. Sie verdienen eine faire Chance.“
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