Mülheim. Erst verlor Martina (56) ihren Job, dann ihre Wohnung. Sie zog in eine Notschlafstelle in Mülheim und schildert ihren schwierigen Weg zurück.
Martina war immer da. Als ihre Tante an Parkinson erkrankte, war sie es in der Familie, die jeden Tag zu der 70-jährigen Frau ins Haus kam. Sechseinhalb Jahre lang pendelte sie hin und her. Danach lernte sie einen neuen Mann kennen, sie ging eine Partnerschaft ein, zog zu ihm ins Haus und kümmerte sich um den Haushalt.
Die Mutter ihres Partners wohnte eine Etage drunter. Nach einem Schlaganfall saß die Frau im Rollstuhl. Martina besuchte einen Kurs für pflegende Angehörige und verbrachte zusehends mehr Zeit im Elternhaus ihres Freundes als in ihrer eigenen Wohnung. Fünf Jahre dauerte die Beziehung, als Schluss war, kümmerte sie sich weiter um die Mutter ihres Ex-Partners. Martina wurde da gerade 50. Vier Jahre später war sie wohnungslos. Der Weg zurück ist hart.
Mülheimerin stand mit Mitte 50 ohne Wohnung da
So schildert es die Mülheimerin bei unserem Treffen in der Teestube der Diakonie an der Auerstraße. Danach sei es eine Verkettung ungünstiger Umstände gewesen, am Ende nur ein paar fehlende DinA4-Seiten, die sie um ihre Wohnung gebracht hätten. Martina, die eigentlich anders heißt, wuchs als Einzelkind in Dümpten auf, ihr Vater war Speditionskaufmann beim Duisburger Hafen, die Mutter Krankenpflegerin.
Nach der Schule wollte sie Hotelkauffrau werden, bekam aber nur Absagen. Sie begann erst mal zu kellnern. Dass sie sich danach nicht noch mal um einen Ausbildungsplatz bemüht hat, bereut sie heute sehr. „So ist das dann dabei geblieben.“ Gute 20 Jahre hat sie in dem Gastronomie-Job gearbeitet. Immer auf den Beinen, immer freundlich sein. Martina fiel das nicht schwer, sagt sie. Irgendwann seien die Leute aber „immer aggressiver und unangenehmer“ geworden, da hörte sie auf und begann sich um ihre Tante zu kümmern.
Martina jobbte auf der Kirmes und lebte im Wohnwagen
Als diese verstarb, musste sich Martina einen neuen Job suchen. Bis dahin hatte sie von dem Geld gelebt, das ihre Tante ihr zugesteckt hatte. Ein früherer Klassenkamerad kam auf sie zu. Er stammt aus einer Schaustellerfamilie, für die Saison fehlte ihm noch eine Tresenkraft. Martina packte ihren Koffer und zog gemeinsam mit zwei anderen Frauen in einen Wohnwagen. Sie tourten von Volksfest zu Volksfest.
Auf 20 Quadratmetern mit zwei fremden Menschen zu leben, machte ihr nichts aus. „Wenn man im Krankenhaus ist, ist man ja auch zu dritt im Zimmer.“ Bei den meisten Schaustellern herrsche eine kameradschaftliche Atmosphäre, sagt sie. „Dass da Zicken sind, ist selten.“
In der Corona-Pandemie Sozialleistungen beantragt - erfolglos
Dann kam Corona. Am 22. März 2022 verkündeten Vertreter von Bund und Ländern erstmals umfangreiche Kontaktbeschränkungen. Auf einmal war alles dicht. Martina zog zurück in ihre Dümptener Wohnung und stellte einen Antrag auf Hartz IV. Der wurde abgelehnt. Laut ihrer Schilderung fehlten Papiere von der Rentenversicherung. Sie habe an die Rentenkasse geschrieben und die fehlenden Unterlagen angefordert. Erfolglos.
Ansprechpartner ans Telefon zu bekommen, sei schwierig gewesen. Die Ämter arbeiteten während der Pandemie tausende von Anträgen so schnell ab, wie es ging. „Dann konnte ich keine Miete mehr bezahlen.“ Der Vermieter, ein Privatmann von auswärts, habe nicht mit sich verhandeln lassen und ihr die Wohnung gekündigt.
Mülheimerin kam vorübergehend bei einem Bekannten unter
Martina zog zu einem Bekannten. Sie war jetzt eine von zehntausenden Wohnungslosen, die in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen. Frauen, sagen Fachleute, gelingt es eher als Männern, noch irgendwo unterzukommen. Manche ziehen jahrelang von Couch zu Couch und nehmen keines der bestehenden Hilfsangebote in Anspruch. Dann wurde dem Bekannten aus heiterem Himmel die Wohnung gekündigt; der Vermieter meldete Eigenbedarf an. Der Bekannte zog zum Vater. Und Martina?
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Ihre Eltern waren schon vor Jahren verstorben, die Freunde hatten Mülheim irgendwann den Rücken gekehrt, Kontakte waren in die Brüche gegangen. Beim letzten Klassentreffen, da war Martina 48 Jahre alt, sei ein Drittel ihrer ehemalige Klassenkameraden schon verstorben gewesen, sagt sie. Wo sollte sie jetzt hin? Martina, die noch immer keine Sozialleistungen bekam, wandte sich an die Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie.
Martina zieht in eine von Mülheims Notschlafstellen
Die unterhält im Mülheimer Stadtgebiet mehrere Notschlafstellen. Wer dort unterkommen will, braucht einen Übernachtungsschein vom Sozialamt. Als der bewilligt wurde, zog Martina in ihr neues Heim. Von außen deutet nichts darauf hin, dass in dem Nachkriegsbau eine Notschlafstelle untergebracht ist.
Martina erinnert sich an einen schlauchförmigen Raum, in den so gerade zwei Stockbetten passen, einen zweiten, in dem noch mal drei stehen. Dazu ein Bad und in der Mitte eine große Wohnküche. „Wie in einer Jugendherberge.“ Fünf Frauen wohnten hier bislang zusammen, mit der Neuen waren es nun also sechs. „Ich hatte Glück, ich musste nicht oben schlafen“, sagt Martina.
Vermieter fragen: „Und wo wohnen Sie jetzt?“
Jede Bewohnerin hat einen Metallspind, was nicht reinpasst, stapelt sich auf dem Boden: Hosen, T-Shirts, Bademäntel, Schuhe. „Das sah aus wie auf dem Trödelmarkt.“ An den ersten Tag erinnert sie sich noch gut. „Schlimm war das.“ Vier Wochen gültig war ihr Übernachtungsschein. Spätestens in sechs Monaten bin ich hier wieder raus, dachte sie da noch.
Martina legte sich ins Zeug. Schon unter normalen Bedingungen ist es nicht einfach, in Mülheim eine günstige Wohnung zu finden. Jetzt kam noch die Pandemie dazu. Das Sozialamt und die hiesigen Wohnungsunternehmen waren schwer zu erreichen, wenn überhaupt, dann am Telefon. „Und wenn man sich dann um eine Wohnung bewirbt, fragt ja jeder: ,Und wo wohnen sie jetzt?‘ Tja…“ Immerhin konnte sie nun die Sache mit den fehlenden Rentenbescheinigungen klären.
Schlangestehen für die billigsten Wohnungen am Markt
Martina suchte in Mülheim, in Essen, in Oberhausen und Duisburg. „Immer vorne an“, in den Randlagen. Auch wer wohnungslos ist, muss sich an die vom Jobcenter festgelegten Wohnkostengrenzen halten. In Neumühl, Meiderich oder Styrum, immer das gleiche Bild: „Wenn ich aus dem Bus rauskam, wusste ich schon, wo die Wohnungsbesichtigung ist. Die standen bis auf den Bürgersteig.“ Es kamen nur Absagen.
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In der Unterkunft gab es dann öfter Reibereien mit den anderen Frauen. Alles, was nicht gekühlt werden musste, deponierte Martina irgendwann unter ihrem Bett. Vorher war schon mal was weggekommen. „Sowas ist natürlich ekelhaft.“ Als der Fernseher irgendwann ausfiel, war Martina heilfroh. „Wenn manche da um zwei Uhr noch Fernsehgucken, das ist dann nicht so toll.“ Vor allem, wenn am nächsten Tag ein Termin beim Amt oder bei einer Wohnungsgesellschaft ansteht: „Wenn man da mit solchen Augenringen ankommt, denken die natürlich, man hätte gesoffen“.
Offiziell ohne festen Wohnsitz: „Als wäre man vorbestraft“
Nach drei Monaten musste sie wieder zum Amt. Da wurde ihr dann ein weißer Streifen über die Adresszeile auf ihrem Personalausweis geklebt. Nun hatte sie offiziell keinen festen Wohnsitz mehr. „Man ist dann abgemeldet.“ Ein schreckliches Gefühl sei das gewesen. „Als wäre man vorbestraft – bin ich ja nicht.“ Die ist sicher auf die schiefe Bahn gerutscht, hat entweder ein Suchtproblem oder psychische Probleme oder alles zusammen – das seien die üblichen Vorurteile.
Wohnungslose Frauen in Mülheim
In den fünf Notschlafstellen der Diakonie Mülheim wurden 2023 insgesamt 108 Personen untergebracht, davon 30 Frauen. Die Zahlen steigen seit Jahren (2020: 87). Unter den Frauen blieben acht nur ein paar Tage, sieben ein Jahr oder länger. Knapp über die Hälfte war älter als 35 Jahre. Zwei wechselten 2023 in eine eigene Wohnung. Die Zahl der obdachlosen Menschen in Mülheim wird auf 10 bis 15 geschätzt. Der Diakonie sind darunter drei Frauen bekannt.
Monat für Monat stellte sie sich beim Sozialamt in die Schlange, um ihren Übernachtungsschein verlängern zu lassen. „Ich bin nicht stolz, vom Charakter her“, sagt Martina, „aber das ist schon sehr unangenehm.“ Nach einem Jahr in der Notschlafstelle rotierte der immer gleiche Gedanke in ihr: „Ich muss hier raus, ich muss hier raus.“
Endlich kam der ersehnte Mietvertrag, sie zog nach Mülheim-Styrum
Dann kam endlich der Stein ins Rollen. Irgendwann rief die Diakonie an: „Für Sie ist Post hier.“ Tatsächlich war es der heiß ersehnte Mietvertrag. Martina unterschrieb und brachte den Vertrag persönlich zum Vermieter. Die riesige Erleichterung kann man sich vorstellen, doch zurück in der Unterkunft ließ sie sich davon nichts anmerken. Kurz vor Weihnachten 2023 fand dann der Umzug statt. Zum Glück waren ihre Sachen aus der alten Wohnung trocken geblieben, die lagerten nämlich seit nunmehr zwei Jahren in einer Garage. Drei Männer von der Diakonie packten mit an. Nach ein paar Stunden war alles in der neuen Wohnung verstaut.
„Komisch, irgendwie schön, aber auch unheimlich ruhig“ sei es da zuerst gewesen. Niemand, der nachts aufs Klo musste, keine lauten Telefonate. Von der Notschlafstelle war sie „eine ziemliche Unruhe“ gewohnt. Um nicht den ganzen Tag allein zu sein, ging Martina weiter regelmäßig in die Teestube der Diakonie.
Wenig Rücksichtnahme im Sechs-Parteien-Haus
Das Gelbe vom Ei sei die neue Adresse nicht, sagt die Mülheimerin. 50 Quadratmeter in einem Sechs-Parteien-Haus in Styrum. Vorne eine viel befahrene Straße, hinten ein großer grauer Garagenhof. „Mir hat die Wohnung nicht gefallen, ich habe sie nur genommen, um rauszukommen.“ Unruhe rund um die Uhr, sagt Martina, wenig Rücksichtnahme der Nachbarn. „Heute Nacht erst, Viertel vor drei, da knallte das Garagentor.“ Vom Keller, wo die Abfallbehälter stehen, ziehe der Gestank durchs Treppenhaus. „Dass ich als Bürgergeldempfängerin eine einfache Wohnung bekomme, ist klar.“
Martina will jetzt wieder arbeiten gehen. Infrage kämen etwa Jobs in der Küche oder im Service. „Viel tut sich da aber nicht“, sagt sie. Oftmals würden nur Teilzeitstellen ausgeschrieben, dann müsste sie aufstocken, sie will aber ganz weg vom Bürgergeld. Nur dann hätte sie die Chance, noch mal umzuziehen. „Ich bin ja auch 56. Das ist alt. Das ist einfach so.“
Auf den Termin beim Amt, zum Melden der neuen Wohnadresse, hatte sie sich gefreut: Endlich würde der weiße Streifen vom Personalausweis verschwinden. Entsprechend entsetzt war sie, als sie beobachtete, wie man die neue Adresse einfach oben drüber klebte. So trägt Martina die zwei Jahre ohne eigene Wohnung womöglich noch lange mit sich herum. Es sei denn, ihr Ausweis ginge zwischenzeitlich zufällig verloren.
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