Mülheim. „Wähl‘ den Mann, der ist gut“: Neue Vorwürfe belasten Bundestagskandidaten-Wahl der Mülheimer Grünen. Geflüchtete sollen beeinflusst worden sein.
Auch drei Wochen nach der umstrittenen Kampfabstimmung um die Bundestagskandidatur 2025 sitzt der Unmut bei einigen Mitgliedern im Kreisverband der Mülheimer Grünen noch tief. Und er wird just genährt durch belastende Aussagen zum Wahlvorgang: Demnach sollen geflüchtete Menschen kurzfristig als Mitglieder aufgenommen und ihnen ein Kandidat „empfohlen“ worden sein.
Im Raum steht damit der Vorwurf der Wahlmanipulation, ein Verdacht, den vor allem langjährige Mitglieder bereits kurz nach der Mitgliederversammlung angedeutet hatten. Denn nicht nur war die Versammlung mit rund 116 Mülheimer Grünen außergewöhnlich gut besucht, sondern es seien auch „viele neue Gesichter“ dort gewesen, so kommentierten die „Alten“.
Anonyme Kritik aus Sorge vor Parteiausschluss
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Mit 34 neu gewonnenen Mitgliedern hatte zur Versammlung der recht neue Kreisvorstand für seine Arbeit in den ersten 100 Tagen selbst geworben. Doch vor allem fiel damals auf, dass einige der Neuen geflüchtete Menschen sind. Das warf bei manchen „Alten“ Fragen auf, wann und wie diese in die Partei aufgenommen wurden, ob sie mit den politischen Zielen der Grünen, mit den Zielen der Wahl und der beiden Kandidierenden vertraut waren. Und nicht zuletzt, ob sie sprachlich in der Lage waren, etwa den Bewerbungsreden der Kandidierenden folgen zu können.
Jetzt präsentieren die Kritiker Ergebnisse, die den Kreisverband zumindest nachdenklich machen sollen, wenn nicht sogar Sprengstoff bieten, um die Wahl und möglicherweise das Vorgehen von einzelnen grünen Mitgliedern infrage zu stellen. Ihre Namen wollen sie vorerst nicht öffentlich machen, denn sie befürchten, statt Aufklärung nur ein Ausschlussverfahren durch den Vorstand wegen Parteischädigung angehängt zu bekommen.
Kritik: Neue Mitglieder eine Woche vor der Versammlung angeworben
So geben die Kritiker an, mit mehreren geflüchteten Familien aus Afrika und Syrien gesprochen zu haben, die die Versammlung besucht und dort auch gewählt haben. Die Familien sollen gut eine Woche vor der Mitgliederversammlung aufgenommen worden sein. Im Gespräch sollen sie angegeben haben, den Wahlvorgang auf der Mitgliederversammlung nicht erfasst zu haben.
Zumindest bei einem Gespräch mit einer syrischen Familie durfte die Redaktion dabei sein, die weiteren mutmaßlich betroffenen Familien sollen dies aber aus Sorge vor möglichen Folgen abgelehnt haben. Und auch diese Familie mit drei Erwachsenen und mehreren Kindern zeigt sich zunächst durchaus besorgt, dass sie „etwas falsch gemacht“, ihr Verhalten negative Auswirkungen haben könnten. Ihre Namen bleiben daher auf Wunsch anonym.
Sie berichten aber, dass sie von einem Mitglied der Grünen in der Mülheimer „Vierzentrale“ an der Leineweberstraße - ein Treffpunkt für verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen aus dem Bereich Kultur, Soziales und Bildung - angeworben sein sollen. Auch Parteimitglieder der Grünen bieten dort Beratungen an.
Beigetreten um Sprache zu lernen und Anschluss zu finden
Dass es sich bei den Grünen um eine politische Partei mit Mitgliederbeiträgen handle, sei den Betroffenen dabei wenig bewusst oder auch nebensächlich. „Die Grünen sind für Ausländer und Natur“, gibt der Vater etwa als einen Grund für seinen Beitritt an. Hauptsächlich aber sei er beigetreten, weil er seine Sprache verbessern und Anschluss in die deutsche Gesellschaft bekommen wolle. Schließlich habe er mehrere geflüchtete Menschen gekannt, die ebenfalls Mitglieder bei den Grünen geworden sind.
Eine Einladung oder ein Gespräch mit dem Kreisvorstand habe es nicht gegeben, versichern Vater und Mutter der Familie. Der Vater habe einfach den Antrag auf Bitten seines Sohnes unterschrieben, ohne alles zu lesen - zum Beispiel, dass mit der Mitgliedschaft auch monatliche Beiträge fällig werden. Eigentlich sei ihm das zu teuer.
Ehemaliger Grüner Vorstandschef: „Üblich, dass es Treffen mit Bewerbern gibt“
Schon dies aber lässt ehemalige Vorstandsmitglieder aufhorchen. „Üblich war es bei uns immer, dass es im Vorfeld Treffen mit Bewerbern und dem Vorstand gibt“, sagt der ehemalige Kreisverbandsvorsitzende Fabian Jaskolla auf Anfrage der Redaktion. Denn so wollte man sicherstellen, dass die Mitgliedschaft zu den Zielen der Grünen passe. Faschisten oder Mitglieder anderer Parteien etwa würde man erst gar nicht zulassen, „denn ein nachträgliches Ausschlussverfahren ist immer schwieriger“, so Jaskolla. Nur in Ausnahmefällen sei etwa durch die Empfehlung eines Vorstandsmitglieds aufgrund der Aktenlage entschieden worden. In jedem Fall aber sei die Mitgliedschaft stets von jedem einzelnen Vorstandsmitglied bestätigt worden.
Auch über den Zweck der Mitgliederversammlung fühlt sich die Familie im Nachgang nur schlecht informiert. „Ich habe erst gedacht, das sei eine Feierlichkeit“, gibt der Vater an. Dass es auch um das wichtige Votum für einen Mülheimer Kandidierenden im Bundestag gehen würde, sei ihm zunächst nicht klar gewesen.
„Wähl den Mann, der ist gut“ - gab es eine Wahlempfehlung?
Irritiert sei die Mutter darüber gewesen, dass in der Partei zwei Kandidierende zur Wahl standen - „wieso gibt es zwei, das ist doch eins?“, fragt sie. Sogar bis heute ist beiden nicht transparent, wofür diese stehen, mehrfach fragen sie im Gespräch nach: „Was ist denn der Unterschied zwischen dem Mann und der Frau?“
„Wen soll ich denn wählen?“, habe der irritierte Vater auch zur Mitgliederversammlung in seinem Umfeld gefragt. Und will eine klare Antwort erhalten haben: „Wähl‘ den Mann, der ist gut.“ Der Empfehlung sei er am Ende auch gefolgt.
Kritiker sehen Vorstand in der Pflicht, den Fall aufzuklären
Durch die Aussagen der Familie sehen die Kritiker ihre Beobachtungen und Befürchtungen über die Mitgliederversammlung bestätigt. Den neuen Mitgliedern, insbesondere den geflüchteten Menschen, sei kein Vorwurf zu machen, sagen sie. Sie sehen allerdings den Kreisvorstand in der Pflicht, die Vorgänge aufzuklären, denn ein möglicherweise Instrumentalisieren von geflüchteten Menschen sei „nicht grün“. Die Hoffnung aber, dass dies nun geschehe, habe man nicht.
Grüner Vorstand: „Wir wollen Leuten nicht in die Köppe gucken“
Dass man bei dem vermeintlichen Fall überhaupt von Instrumentalisierung sprechen könne, zweifelt Christian Strosing, Schriftführer im Vorstand, an: „Jedes Mitglied des Kreisverbands darf wählen. Wir dürfen und wollen nicht prüfen, ob eine gewisse Sprachkompetenz oder vollumfängliches Verständnis vorliegt und dann entscheiden, wer wählen darf - und wer nicht.“ Man dürfe eben auch dann wählen, wenn man den Hintergrund der Kandidierenden nicht kenne und sie nur sympathisch finde.
Oder diese auch dann wählen, weil - wie mutmaßlich in diesem Fall - es von anderen geraten worden sei. Das passiere bei jeder Wahl, „das ist eben Demokratie. Bei anderen Wahlen steht auch niemand an der Wahlurne und kontrolliert, ob alle sich mit den Kandidierenden und deren Programm beschäftigt haben. Dann würde es die AfD nicht geben“, sagt Strosing gegenüber der Redaktion.
Auch bei den Neumitgliedschaften habe man nicht näher überprüft, ob die Menschen geflüchtet sind. Für eine Mitgliedschaft sei dies auch unerheblich: Denn angesichts der vielen neuen Mitglieder sei das nicht möglich. Man könne und wolle den Leuten auch „nicht in die Köppe gucken“, so Strosing. „Wir sind doch Grüne, wir stehen für Vielfalt, Offenheit. Wir wollen Menschen mit Migrationshintergrund die Tür öffnen, dass sie teilhaben können“, gibt er zu bedenken.
Vorstand kontert: Es sei befremdlich, dass die Geflüchteten angesprochen worden sind
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Vielmehr fände man es „befremdlich“, ergänzt die Vorstandsvorsitzende Annette Lostermann De Nil, wenn geflüchtete Menschen in der Mitgliederversammlung darauf angesprochen worden seien, dass und wen sie gewählt haben. „Das ist keine Willkommenskultur“, kritisiert die langjährige Grüne.
Gleichwohl zeigt sich Lostermann De Nil willens, über den Fall zu sprechen: „Dafür müssten die Mitglieder sich bei uns melden, damit wir wissen, um wen es sich handelt und gegen wen, welche Anschuldigungen erhoben werden.“ Bislang sei das nicht geschehen.
Ist die Wahl damit infrage gestellt?
Doch hätte der gewählte Bundestagskandidat auch ohne die Stimmen der Neuen auch eine Mehrheit? Der Vorstand zumindest sieht durch die neuen Vorwürfe das nicht infrage gestellt: Björn Maues Mehrheit sei für eine Kampfkandidatur gar nicht so knapp, ordnet Strosing ein, eine Mehrheit ist immer noch eine Mehrheit, „selbst wenn es nur eine Stimme wäre“.
Der von der MV mit 53 Prozent (62 zu 52 Stimmen) gewählte Bundestagskandidat Björn Maue sieht indes die weiteren Schritte seiner Kandidatur durchaus „zunächst auf Eis gelegt“ - wenn auch nicht nur aufgrund der neuen Vorwürfe. Sondern vielmehr aufgrund der tiefen Spaltung im Mülheimer Kreisverband, die in der Mitgliederwahl noch einmal zutage getreten ist. „Es geht mir weiterhin darum, wieder ein Momentum in der Partei zu entwickeln“, erneuert Björn Maue seinen Wunsch, die Partei wieder einigen zu wollen.
Maue: „Weitere Schritte erst einmal auf Standby gesetzt“
„Franziska Krumwiede-Steiner und ich suchen in dieser Situation miteinander nach einer Lösung, die politisch und inhaltlich für die Gruppe insgesamt gut ist“, erläutert Maue. Beide seien schon kurz nach der MV „in einen kontinuierlichen Austausch getreten“. Einen gemeinsamen Vorschlag werde man bald dem Kreisverband vorlegen.
Zu den neuen Vorwürfen habe Maue „selbst viele Fragezeichen, die es aufzulösen gilt. Die Aufgabe sehe ich primär beim Vorstand.“ Doch solange es Zweifel an dem Verfahren gebe, sei „erst einmal alles auf Standby gesetzt. Ich gehe mit meinem Votum so lange nicht weiter in der Partei voran, sondern will es erst in Mülheim geklärt wissen“. Seine Aufgabe und die von Krumwiede-Steiner sei es nun, dass der Kreisverband wieder mit der notwendigen Einigkeit sprechen kann. „Mülheim zuerst - und dann schauen wir, wie es mit der Kandidatur in der Partei weitergehen kann.“
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