Mülheim. Der Nachbarschaftsverein Augusta- und Gustavstraße besteht seit 40 Jahren. Der Schwerpunkt der Arbeit verlagert sich immer mehr von Kindern hin zu Senioren. Mit dem geplanten Abriss von 90 mittlerweile leerstehenden Wohnungen steht das Mülheimer Quartier auch vor einem baulichen Umbruch.
Vielleicht ist er so etwas wie der Kitt, der eine schwierige Siedlung zusammenhält. Er klebt gut, dieser Kitt. Und das seit 40 Jahren. Der Nachbarschaftsverein (NBV) Augusta- und Gustavstraße hat in dieser Zeit viele Veränderungen im Quartier begleitet und Sorgen der Bewohner gemeistert.
Ein paar Studenten – darunter Mülheims heutiger Sozialdezernent Ulrich Ernst – legten 1974 als Honorarkräfte des Diakonischen Werks den Grundstein für den Verein. In einer Wohnung betreuten sie die damals vielen Kinder in der Siedlung, boten Gruppenstunden und Hilfe bei den Hausaufgaben. „Die haben schnell gemerkt, das ganze Quartier hatte verschiedene Nöte“, berichtet Udo Marchefka (46), damals als Kind dabei, heute Vorsitzender des Vereins und hauptamtlich als Sozialbetreuer angestellt. Die Studenten luden die Nachbarn im Sommer 1974 ein, stellten ihre Idee für einen Verein vor und die Menschen, sagt Marchefka, „waren begeistert“.
Einfache Arbeiter und viele Kinder
Einfache Arbeiter prägten in den 1970ern die Siedlung, trotz Job oft an der Armutsgrenze, viele kinderreiche Familien und allein erziehende Mütter lebten hier. „Die Betreuer wollten über die Arbeit mit den Kindern auch an die Eltern, an die Familien kommen, wollten ihre Probleme hören und helfen“, erzählt Marchefka.
Aus der Vereinstätigkeit entstanden Ferienfreizeiten, viele Gruppen, auch Sportvereine. Die Beiträge waren niedrig – „und wenn einer gar nicht zahlen konnte, haben wir das Geld woanders aufgetrieben.“ Erich Schäfer (er starb 2010), Vorsitzender und hauptamtliche Kraft, war der Motor des Vereins. Schnell strahlte das Angebot über die enge Siedlung hinaus, heute ist der NBV ein Verein für ganz Styrum. Marchefka: „Wir sind hier der Dreh- und Angelpunkt.“
Menschen kommen mit ihren Nöten ins Büro des Vereins
Noch immer kommen die Menschen mit ihren kleinen und großen Nöten ins Büro an an der Augustastraße, bitten um Hilfe im Alltag, in der Auseinandersetzung mit Ämtern. „Und wenn wir nicht weiterwissen, haben wir Ansprechpartner“, so Marchefka.
Wie der Verein seine Arbeit finanziert
Die Stellen der hauptamtlichen Kräfte Udo Marchefka und Birgit Geiger, Miete und Sachkosten finanziert die Stadt. Als Träger der Jugendhilfe kann der NBV Leistungen abrechnen. Dazu gibt es derzeit zwei 400-Euro-Kräfte, vier Mitarbeiter in „Bürgerarbeit“ und fünf ältere Landzeitarbeitslose, die über Förderprogramme bezahlt werden. 15 Ehrenamtliche leiten Angebote und Gruppenstunden.
Unterstützt wird der Verein durch die Stinnes- und die Heinrich-Thöne-Stiftung. Auch gibt es 50 zahlende Mitglieder (Beitrag fünf Euro im Monat für Einzelpersonen, zehn für Familien). Infos im Internet: www.nbvstyrum.de
Schöne Pointe dabei: Die Kinder von einst sind heute die Betreuer und Ehrenamtlichen – und die Aktiven von damals sind heute die Senioren. Ein Geben und Nehmen über Generationen.
Siedlung mit 90 Wohnungen wird abgerissen und durch neue Häuser ersetzt
Neben der Veränderung durch weniger Kinder und mehr Senioren steht die Siedlung an der Augustastraße auch vor einem baulichen Umbruch: Vermieter SWB (Service-, Wohnungsvermietungs- und -baugesellschaft) will im Winkel von A40 und Lärmschutzwall zum Mannesmann-Gelände 17 Mehrfamilienhäuser mit 90 Wohnungen aus den 1950er Jahren abreißen und an ihrer Stelle durch eine Tochtergesellschaft 39 Einfamilienhäuser (Einzel, Doppel und Reihe) bauen. Derzeit laufen noch die Planergespräche für die Baugenehmigung mit der Stadtverwaltung, berichtet SWB-Sprecherin Christina Heine. Der weitere Zeitplan: Abriss noch in diesem Jahr, 2016 sollen die Neubauten dann stehen. Die alten Wohnungen waren zuletzt kaum noch zu vermieten, 30 % standen leer.
Das war mal anders. 400 Menschen haben hier gelebt, berichtet Udo Marchefka vom Nachbarschaftsverein. Inzwischen sind alle Häuser leer gezogen, eine Geistersiedlung. Der Verein hat den Mietern geholfen, die umziehen mussten. Viele sind in Styrum geblieben, wollen wieder zurück an die Augustastraße, wenn die neuen Häuser stehen, berichtet der Betreuer. Auch da wirkt er, der Kitt, der den Ort zusammenhält. Marchefka: „Man sagt ja nicht umsonst, Styrum ist ein Dorf. Man kennt sich, der Zusammenhalt hier ist anders. Und das ist hier ‘n ehrliches Volk. Die Leute sagen, was sie denken.“