Mülheim. „Er ist so stark, er tröstet sogar noch seinen Vater“, sagt der Mülheimer Sagevan Pathmanathan nach dem Bus-Unfall über seinen Cousin (10).

An diesem einen Tag, auf einem deutschen Flughafen, fragt Gabirnath seinen Vater bei seiner Rückkehr von der wahrscheinlich schwersten Reise seines Lebens: „Wo bleibt Mama?“. Gabirnath weiß noch nicht, was sein Vater ihm gleich sagen wird. Er weiß noch nichts von all der Wut und Trauer, die ihn erfassen wird. Er glaubt fest und unerschütterlich an die Rückkehr seiner Mutter, wie es nur ein Kind tun kann. Swaminathan Selvaranjan muss ihm antworten, auf die wahrscheinlich schwierigste Frage seines Lebens: „Sie wird nicht kommen.“

Es ist auch dieser eine Tag, an dem der Vater seinem zehnjährigen Sohn sagen muss, dass seine Mutter niemals wiederkommen wird. Aus dem Urlaub, vom Besuch der Familie, zu der sie Ende Juli voller Vorfreude auf ein Wiedersehen aufgebrochen sind. Sathiya Selvaranjan (31) verlor ihr Leben am 19. August auf Sri Lanka. Die zweifache Mutter starb an den Folgen des tragischen Unfalls, der sich am 29. Juli auf der Insel ereignete. Und der auch Sminath das Leben gekostet hat, dem elf Jahre alten großen Bruder von Gabirnath, genau wie seiner Tante und seiner Oma. Vater Swaminathan und Sohn Gabirnath überlebten unverletzt. Hatten sie Glück, weil sie auf der anderen Seite des Busses saßen? Auf der Seite, die nicht von einem Gemüselaster getroffen wurde?

Im Namen seiner Familie spricht Sagevan Pathmanathan über den tragischen Unfall


An diesem Morgen Ende August sitzt Sagevan Pathmanathan in dem Restaurant an der Bachstraße, das seiner Familie gehört. Genauer: seinem Onkel Swaminathan. Viel ist noch nicht los, bis zur Mittagszeit dauert es noch. Sagevan Pathmanathan hat sich die Zeit genommen, möchte im Namen seiner Familie und für sie sprechen, über ihr schreckliches Schicksal, den Tod der Tante, des Cousins, den Unfall. Er will erzählen und appellieren. Sein Handy klingelt dabei unentwegt. Er lässt es klingeln.

Der 28-Jährige wirkt gefasst, spricht leise, dafür aber bestimmt. Nur in dieser einen Sekunde, als er erzählt von Gabirnaths Frage an seinen Vater, da merkt man es ihm an. Diese Trauer, Ohnmacht, Wut. Doch eigentlich hat Sagevan Pathmanathan die Rolle des Starken in der Familie übernommen. Er war es, der von Mülheim aus geregelt hat, was es zu regeln gibt, in diesem tragischen Fall. Er ist es auch, der momentan das Restaurant seines Onkels weiterführt. Und er sagt: „Wir alle sind noch gar nicht in der Realität angekommen.“

„Jetzt sehen wir, wie tief Schmerz überhaupt gehen kann“

So ein Unglück überhaupt zu fassen, werde nicht einfach sein. „Das hat unsere ganze Familie zerstört“, sagt der junge Mann, der Starke, aber auch. Er fügt hinzu: „Jetzt sehen wir, wie tief Schmerz eigentlich gehen kann.“ Er reiche sogar so tief, dass die Urgroßmutter der Familie kurz nach dem Unglück gestorben sei.

Doch der Schmerz ist die eine Sache. „Uns geht es auch um Gerechtigkeit. Uns geht es darum, dass es keinem anderen passiert. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein.“ Dass ihr großer Verlust nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, ist der Mülheimer Familie mit den tamilischen Wurzeln wichtig. Sie haben ein Anliegen. Sie wollen die Aufmerksamkeit der Touristen und auch des sri-lankischen Staates auf den lebensgefährlichen Straßenverkehr und die vielen Verkehrstoten lenken. Sagevan Pathmanathan und seine Familie appellieren: „Der Staat muss dagegen vorgehen und in seine Infrastruktur investieren und die Verkehrskontrolle stärken.“

Das Auswärtige Amt warnt vor einer Fahrt mit öffentlichen Bussen bei Überlandreisen

3096 Menschen starben laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation 2016 im Straßenverkehr auf Sri Lanka. Auf 100.000 Einwohner kamen 14,9 Verkehrstote. In Deutschland waren es im gleichen Jahr 4,1 Tote auf 100.000 Einwohner. Das Auswärtige Amt veröffentlicht auf seiner Homepage zu den Reise- und Sicherheitshinweisen für Sri Lanka: „Bei Überlandreisen ist die Eisenbahn gegenüber öffentlichen Bussen, die aufgrund rücksichtsloser Fahrweise häufig in schwere Unfälle verwickelt sind, vorzuziehen.“ Und auch: „Nachtfahrten sind aus Gründen der Verkehrssicherheit außerhalb der Städte nicht ratsam.“

An diesem 29. Juli, zwei Tage nach dem Aufbruch in Mülheim, wenige Minuten vor dem Tod, der Tragödie, war es wieder ein Bus, der die Familie nach Jaffna in den Norden der Insel bringen sollte. Es gibt nur eine richtige Straße dorthin, die A9, eine Art Autobahn, die eigentlich keine sein dürfte. Das denkt zumindest Sagevan Pathmanathan. Denn: „Diese Straße ist nur zweispurig und dort dürfen die Autos bis zu 130 Stundenkilometer fahren.“ Eine Mittelleitplanke gebe es auch nicht. Immer wieder komme es dort zu heftigen Unfällen.

Gerüchteweise soll der Fahrer des Gemüselasters angetrunken gewesen sein

Der Gemüselaster stieß mit der Fahrerseite des Kleinbusses zusammen. Der Fahrer flüchtete nach dem Unfall, stellte sich aber einen Tag später der Polizei.
Der Gemüselaster stieß mit der Fahrerseite des Kleinbusses zusammen. Der Fahrer flüchtete nach dem Unfall, stellte sich aber einen Tag später der Polizei. © Unbekannt | Privat


So auch am 29. Juli. Der Fahrer des Gemüselasters verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug, prallte mit voller Wucht in die Fahrerseite des Kleinbusses. „Er hat sich zweimal um 360 Grad gedreht“, erzählt Sagevan Pathmanathan und stützt sich auf Augenzeugenberichte. Geht es um eine Antwort auf die Frage nach dem Warum – Sagevan Pathmanathan und seine Angehörigen können nur spekulieren. „Es kam das Gerücht auf, dass er angetrunken war und überhaupt keinen Führerschein hat.“ Nach dem Unfall sei er geflüchtet, habe sich aber einen Tag später der Polizei gestellt. Ein Prozess soll angeblich im Oktober stattfinden.


Die beiden Leichen von Mutter und Sohn sind mittlerweile nach Mülheim gebracht worden. „Der ADAC hat uns bei der Rückführung und generell sehr unterstützt“, so Sagevan Pathmanathan. Sie warten noch immer auf die Sterbeurkunde der Mutter. Am kommenden Montag findet die Trauerfeier auf dem Hauptfriedhof statt, am Mittwoch dann eine Seebestattung in den Niederlanden. Auf einen Platz auf dem Friedhof hat die Familie ganz bewusst verzichtet. Denn so würde Swaminathan Selvaranjan niemals abschließen können, niemals verarbeiten können, welch großer Verlust ihm zugestoßen ist.

„Wir hoffen, dass er so stark bleibt“

„Er hat seine ganze Welt verloren, für ihn ist alles zerstört“, sagt Sagevan Pathmanathan auch über seinen Onkel. Er selbst habe über sich gesagt: „Ich bin nur noch ein halber Mensch.“ Derzeit hat sich der 39-Jährige für eine Weile völlig aus dem Geschäft zurückgezogen.

Sagevan Pathmanathan sorgt sich vor dem Alltag. Der hat für den kleinen Gabirnath längst begonnen. Am Mittwoch hatte er seinen ersten Schultag an einer weiterführenden Schule. An der Schule, die auch sein großer Bruder besuchte. Gabirnath hatte den unbedingten Willen, seinen Schulstart pünktlich zu meistern. „Er ist so stark, er tröstet sogar noch seinen Vater“, sagt Sagevan Pathmanathan über seinen Cousin. „Wir hoffen, dass er so stark bleibt.“