Mülheim.

Ob als einarmiger Kommissar Tauber im Polizeiruf 110, böser Wolf im Rotkäppchen oder gequälter Mörder in Schirachs Verbrechen. Für seine abgrundtiefen Figuren wurde der Schauspieler bereits mit maßgeblichen Fernsehpreisen ausgezeichnet. Bei den „Stücken“ spielte der 65-Jährige den Faust in der Aufführung des Züricher Schauspielhauses: mit Verve, vollem Körpereinsatz und diabolischen Glitzern in den enzianblauen Augen.

Faust und Jelinek – zwei Brocken aus dem prallen Leben und dazu ein Spiel unter körperlicher Höchstleistung. Ist das nicht manchmal kräftezehrend?

Edgar Selge: Nein, das würde ich nicht sagen. Es kostet Kraft, das merkt man hinterher. Schauspielerei ist ein körperlicher Beruf und kein Kopfberuf. Der ist auch schweißtreibend und exzessiv. Das gehört dazu. Das Körperliche ist etwas, was das Theater in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat gegenüber dem edlen, vornehmen bildungsbürgerlichen Sprechtheater.

Sie sind jetzt zum vierten Mal bei den Mülheimer Theatertagen. Was hat die Einladung für einen Stellenwert für Ensembles?

Selge: Ich war noch gar nicht so oft hier, wenn ich bedenke, wie alt ich bin. Das Festival hat eine ganz wichtige Funktion, weil es unterstreicht, dass Theater für Gegenwartsstücke gedacht ist. Wir gehen doch ins Theater, um etwas über unsere eigene Widersprüchlichkeit und gegenwärtige Befindlichkeit zu erfahren. Das vermitteln auch Goethe-, Shakespeare- oder Kleist-Stücke – aber zunächst tut das am Zuverlässigsten die Gegenwartsdramatik.

Sie spielen meist gebrochene Figuren. Was reizt Sie daran?

Selge: Mich interessiert die Komplexität der Figuren. Das ist Realismus. Wenn im Drehbuch eine positive Figur steht, versuche ich, die Schattenseiten dazu zu erfinden. Und wenn sie ein ,Bösewicht’ ist, dann versuche ich, diesen Menschen nachvollziehbar zu machen, seine verletzbaren Seiten zu finden.

Hat das etwas damit zu tun, dass Sie und Franziska Walser sich seit vielen Jahren für „Basta“, einem Bündnis für psychisch kranke Menschen engagieren?

Selge: Auch auf der Bühne haben wir mit Grenzsituationen zu tun, verteidigen Menschen in Grenzsituationen. Deshalb setzen wir uns sehr gerne für Menschen ein, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung so etwas wie Seismographen für unsere Gesellschaft sind. Durch Überlastung, Vereinzelung, Verstädterung wird es für Familien immer schwerer, zusammen zu bleiben. Wir werden immer mehr von unseren Wurzeln abgeschnitten und da gibt es Menschen, die sensibler reagieren als andere.

Ihr Vater war Direktor einer Justizvollzugsanstalt für Jugendliche in Herford. Hat das Ihr Bild von Gerechtigkeit, Freiheit beeinflusst?

Selge: Ich glaube schon, dass mich der Einsatz meines Vaters für straffällig gewordene Jugendliche, sein Einsatz für die Resozialisierung beeindruckte. Auf der anderen Seite war er ein sehr musischer Mann, hat gut Klavier gespielt und Konzerte für die Strafgefangenen gegeben. Diese Kombination aus großem künstlerischen Interesse und sozialem Einsatz ist etwas, was durch meinen Vater vorgegeben ist und das sicher auch noch seine Nachwirkungen in der Art und Weise zeigt, wie ich versuche, mit Figuren umzugehen.

Ihr Sohn Jakob Walser ist auch Schauspieler geworden. Haben Sie ihn zu diesem Beruf ermuntert oder abgeraten?

Selge: Weder noch. Wir haben unsere Kinder machen lassen, was sie machen wollten und sie sind beide in verwandten Ausdrucksberufen gelandet: Unsere Tochter ist Tänzerin geworden, arbeitet zurzeit mit Herbert Fritsch an der Volksbühne Berlin. Und der Jakob hat nach einem abgeschlossenen Geschichts- und Politikstudium gesagt, dass er zum Theater will. Er ist noch mal mit 27 Jahren auf die Schauspielschule gegangen und relativ spät Schauspieler geworden. Er ist jetzt in Wuppertal und spielt wie der Teufel eine große Rolle nach der anderen. In diesem gefährdeten Wuppertaler Ensemble, das wohl nur noch eineinviertel Jahre zusammenbleibt.

In der nächsten Spielzeit sind Sie Ihrem Sohn nahe. Jelineks Faust-Stück wird in Düsseldorf gezeigt?

Selge: Ja, wir spielen dieses Stück, eine Inszenierung vom Schauspielhaus Zürich, in Düsseldorf weiter. Unser eigentliches Theater im nächsten Jahr wird Stuttgart sein. Mit Armin Petras (Intendant) gehen Franziska Walser und ich nach Stuttgart und spielen dort zunächst die Produktionen vom Berliner Gorki Theater: Zerbrochener Krug, Iphigenie und als Neuproduktion machen wir Schnitzlers Reigen.