Mülheim.

Fünf gestandene Frauen, Kaffee und Kuchen, Gläschen zum Anstoßen, Gesprächsstoff für Stunden. Nichts Besonderes, eigentlich, doch das Kränzchen, das sich im Wohnzimmer von Gisela Barnowski versammelt hat, glänzt mit einer langen gemeinsamen Geschichte: Diese Mülheimerinnen kennen und treffen sich seit 75 Jahren.

„Mindestens“, meint Christa Greiss, die die Ursprünge dieser Gruppe bis ins Vorkriegsjahr 1937/38 zurückdatiert, als sie alle noch ganz kleine Mädchen waren. Sie selber nennen sich „Die Kinder von der Gracht“, bis heute, obwohl sie mittlerweile Großmütter sind, zwischen 75 und 78 Jahre alt. Vor einem Dreivierteljahrhundert zogen ihre Eltern in Mehrfamilienhäuser der MWB an der Gracht, Hausnummern 61 bis 69, oberhalb des Jüdischen Friedhofs, der ihnen damals auch als Spielplatz diente. Die Wohnblocks stehen nicht mehr, wurden ersetzt durch Eigenheime an der Ecke zur Kattowitzer Straße, aber der Kontakt zwischen den beiden Giselas, Dagmar, Christa und Ursula ist nie ganz abgerissen. Übrigens wohnen sie auch alle bis heute in Mülheim.

Viele gemeinsame Erlebnisse und Anekdoten

Eine vielköpfige Kinderschar waren sie früher, gingen alle zur Hindenburg-, die heute Hölterschule heißt, trafen sich zum Spielen am Rondell zwischen den Häusern, „dort stand auch der Mast, an dem die Hakenkreuzfahne gehisst wurde“, erinnern sich die Frauen.

Es gibt viele gemeinsame Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten, von harmlosen Kinderstreitereien um die damals so seltenen, wertvollen Lollies bis hin zu verstörenden Kriegserfahrungen. Einmal muss ein britischer Kampfpilot nahe der Häuser abgestürzt sei. Schaurige Sensation für die Kinder von der Gracht, die sich wie beim Kreisspiel an den Händen fassten und über den Leichnam hüpften. „Es war absurd“, sagt Gisela Fondermann, „aber Kinder gewöhnen sich an alles.“

Kontakt ging nie verloren

Bombennächte wurden im Bunker zwischen Buggenbeck und Gleiwitzer Straße durchgestanden, eines der Häuser getroffen. Ssinter Mätes in Notzeiten fiel armselig aus: „Wir haben nur ein paar Mispeln und Zwiebeln bekommen“, von Schokolade konnten die Kinder von der Gracht da nur träumen. „Geklaut haben wir auch“, beichtet Christa Greiss, „Äpfel, Aprikosen, Flieder zum Muttertag.“ Ein Bauer setzte den Gören mit der Mistgabel nach.

Meist bis zu ihrer Hochzeit wohnten die Mädchen, jungen Frauen, an der Gracht, zogen erst ab den 50er Jahren nach und nach fort. Christa Greiss, gelernte Schneiderin, nähte für Gisela Barnowski das Verlobungs- und für Gisela Fondermann das Brautkleid. Und doch: Als ihre Kinder klein waren, alle mit Familie und Beruf schwer beschäftigt, dünnte der Kontakt über etliche Jahre deutlich aus. Aber er verlor sich nie.

Überraschungsgäste bei Goldener Hochzeit

Dabei pflegt das Quintett keinen regelmäßigen Kaffeeklatsch, trägt keine langfristig geplanten Treffen in die Taschenkalender ein, sondern verabredet sich nach Lust und Laune per Telefon, vielleicht drei Mal im Jahr, mal zum Reibekuchenessen im Garten, dann zum runden Geburtstag. „Wir machen das spontan.“ Als die Schwester von Christa Greiss, die 1969 nach Kanada auswanderte, im vergangenen August ihre Goldene Hochzeit in der Walkmühle feierte, waren die Mädchen von der Gracht als Überraschungsgäste dabei.

Wenn sie sich heute treffen, amüsieren sie sich über Kindersprüche ihrer Enkelchen. Aber natürlich werden in 75 gemeinsamen Jahren auch schlechte Nachrichten ausgetauscht, Schicksalsschläge getragen. „Es gibt keine langjährige Freundschaft ohne Probleme“, meint Christa Greiss, „aber wir haben nie groß drüber gesprochen. Andere reden auch viel mehr über Krankheiten. Wir singen und lachen lieber.“