Mülheim.
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagt Charlotte Nierhaus kategorisch. Dass dieses geflügelte Wort wahr ist, erfuhr die 87-Jährige hautnah: Ihr Umzug ins sonnige Kalifornien endete mit Heimweh. Nun ist die Rentnerin zurück im „Haus Gracht“ der Mülheimer Seniorendienste. Wenigstens wohnt sie hier in der „Sonnengasse“.
Eigentlich sollte alles ganz anders kommen. Knapp 9000 Kilometer von hier wollte Charlotte Nierhaus ihren Lebensabend verbringen. Die Familie ihrer Tochter Annelie und die drei Enkelinnen wollten sie verwöhnen. Chukchansi heißt der Ort nahe der Stadt Fresno in Kalifornien. Oft war die Rentnerin schon dort, meist für mehrere Monate, meist mit ihrem Lebensgefährten Friedhelm Gottschalk. Seit 1978 sind die beiden zusammen.
Mehr als 40 mal in Amerika gewesen
„Wir sind Vielflieger“, erzählt Charlotte Nierhaus, „mehr als 40 Mal war ich bestimmt schon in Amerika.“ Ob Hawaii oder Las Vegas – überall. Eine aktive Frau. „Ich war immer selbstständig“, sagt sie und erwähnt ihre eigene Wohnung in der Mülheimer Innenstadt.
Vergangenes Jahr jedoch war es damit plötzlich vorbei. Schlaganfall. Seither sitzt Charlotte Nierhaus im Rollstuhl. An ein Leben in den eigenen vier Wänden war nicht mehr zu denken. Daher zog sie ins Haus Gracht, genauer: in die „Sonnengasse“. Täglich bekam sie Besuch von Friedhelm, der ein kleines Appartement am Hans-Böckler-Platz bewohnt.
Doch warum Seniorenheim, wenn sich die Familie kümmern kann? Das dachte sich Tochter Annelie und bereitete in ihrem Haus in Chukchansi alles für ihre Mutter vor. „Ich hatte ein spezielles Bett in meinem eigenen Zimmer. Die Sanitäreinrichtungen waren extra neu gestaltet worden“, betont Charlotte Nierhaus. Sie zog aus dem Haus Gracht wieder aus.
Sonne satt
14 Stunden Flug bis zum neuen Zuhause in den USA. Sonne satt und das Spielcasino nebenan. Das Chukchansi „Gold Resort“ ist bekannt. „Ich spiele leidenschaftlich gern“, erzählt die alte Dame. Dass ihre Tochter im Casino arbeitet, bot beste Voraussetzungen zum Frönen dieser Leidenschaft.
Aber: Friedhelm musste aus gesundheitlichen Gründen in Mülheim bleiben. „Natürlich war geplant, dass er nachkommt und wir in Kalifornien zusammen leben.“ Aber erst einmal war er weit weg, die Enkelinnen mussten zur Schule, Tochter Annelie zur Arbeit. „Ich war vormittags immer auf mich allein gestellt“, erzählt die Rentnerin. Hinzu kamen Sprachprobleme. „Englisch habe ich in der Schule gelernt. Das ist mehr als 70 Jahre her.“ Kontakt zu den Nachbarn ließ sich aber nur auf Englisch aufbauen. „Mir war bald langweilig“, berichtet Charlotte Nierhaus.
Heimweh, Langeweile undSorge um den Lebensgefährten
Und plötzlich erfuhr sie: Ihr Freund Friedhelm Gottschalk war in Mülheim operiert worden. Sie machte sich Sorgen. „Ich habe fast vier Wochen lang nichts von ihm gehört. Das habe ich nicht mehr ausgehalten und meiner Tochter gesagt: Ich will nach Hause.“
Zu Hause: Das ist Mülheim, die gewohnte Umgebung – und seit einigen Wochen wieder der Wohnbereich „Sonnengasse“ im Haus Gracht. „Wir hatten vereinbart, dass Frau Nierhaus wieder zurückkommen kann, wenn es in Amerika nicht klappt“, berichtet Maud Barleben, die für das Einzugsmanagement in der Senioreneinrichtung zuständig ist.
„Friedhelm stand mit dem Rollstuhl vor der Tür, als ich wieder nach Hause kam“, berichtet Charlotte Nierhaus. Die Rührung ist ihr anzumerken. „Wenn das meine Tochter gesehen hätte, sie hätte mich noch besser verstanden.“ Ihrer Spielleidenschaft kann sie weiterhin frönen: „Wir spielen täglich“, sagt sie. Rommee oder Kniffel mit Friedhelm oder Bingo mit den anderen Bewohnern im Gemeinschaftsraum.