Neukirchen-Vluyn. Mit „Politik im Friseurstuhl“ will Taibe Qorri ihrem Salon zum Diskussionsort machen. Warum sie es wichtig findet, sich politisch zu engagieren.

Das Interesse an Politik wurde Taibe Qorri in die Wiege gelegt. Nicht, weil ihre Eltern so politisch aktiv waren, aber weil sie Interesse hatten und vor allem, weil ihre Herkunft ihr gar keine andere Wahl ließ. Familie Qorri stammt aus Kosovo-Albanien, Taibe wurde noch dort geboren, ihre drei jüngeren Geschwister bereits im Bethanien-Krankenhaus in Moers. Ihr Vater arbeitete unter Tage, die Familie wohnte erst am Etzoldplatz, dann in der Hans-Böckler-Straße. Doch der Jugoslawienkrieg, der 1991 begann, hinterließ tiefe Spuren in ihrer Kindheit, auch wenn sie da schon einige Jahre in Deutschland lebte. Noch heute hat sie die Radiomoderatoren im Ohr, die auf albanisch über die Lage in den Kriegsgebieten berichteten. „Das hat mich sehr geprägt, ich habe das aufgesaugt und sehr früh gelernt, Frieden und Demokratie wertzuschätzen“, erzählt Qorri.

Ihre Eltern waren tolerant, ließen sie vieles ausprobieren und die Familie war trotz anfänglicher Sprachbarrieren schnell integriert. Ihr Vater nahm sie mit zu Demonstrationen für Frieden im Kosovo, sie sammelte Medikamente, die in die alte Heimat transportiert wurden. Jedes Jahr fuhr sie mit der Familie sechs Wochen in den Kosovo, sah, mit wie wenig die Menschen dort klarkommen mussten, was die Unterdrückung mit ihnen gemacht hat. „Dort war immer diese Schwere, dieser Gedanke, nicht alles sagen zu dürfen, aufpassen zu müssen“, erzählt sie.

„Wir müssen aufwachen aus dem Dornröschenschlaf“

Jahrzehnte später hat die heute 40-Jährige sich ihren Willen, sich zu engagieren, etwas zu machen, beibehalten und ist mehr denn je bereit, auch andere davon zu überzeugen. Dabei schlug sie nach der Schule einen Weg ein, der auf den ersten Blick wenig mit Politik zu tun hat: Sie wurde Friseurmeisterin, eröffnete bereits mit 23 Jahren ihren ersten eigenen Salon in Schaephuysen, den sie bis vor drei Jahren erfolgreich führte. Doch die Corona-Auswirkungen, der Mitarbeitermangel und die unflexible Zeitplanung als zweifache Mutter machten ihr zu schaffen.

Sie entschied sich zu etwas Neuem: Ein kleiner, aber feiner Salon in Neukirchen an der Wiesfurthstraße, im gleichen Haus, in dem sie auch mit ihrer Familie lebt. Ohne Mitarbeiter kümmert sie sich hier um ihre Kunden und hat sich ganz nebenbei etwas noch viel Wichtigeres aufgebaut: Einen Raum für Demokratie. Ihr Ziel: Den Menschen zeigen, dass jeder Politik machen kann, jeder etwas bewegen kann, auch als Quereinsteiger. „Wir müssen aufwachen aus dem Dornröschenschlaf, wir haben keine Zeit mehr“, sagt sie. „Das Vertrauen in Politiker schwindet, weil es keine Identifikationsfiguren mehr gibt, weil sich viele Menschen nicht repräsentiert fühlen. Das kann man ändern, wenn man seine Freizeit selbst nutzt, um Demokratie zu stärken.“

„Politik im Friseurstuhl“: Jeder ist willkommen

Taibe Qorri ist Teil des Formats „Raum für Demokratie“ der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB).
Taibe Qorri ist Teil des Formats „Raum für Demokratie“ der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). © FUNKE Foto Services | Markus Joosten

Wer die 40-Jährige kennenlernt, merkt schnell: Sie sprudelt nur so vor Ideen und Tatendrang, sie liebt den Meinungsaustausch. „Ich will zeigen, dass es auch einen anderen Weg gibt, als zu sagen, die da oben interessieren sich eh nicht für mich und ich resigniere deswegen“, erklärt sie. „Raus aus der Komfortzone“ lautet ihr Motto. „Ich möchte Teil einer Veränderung sein, mutig sein und meine Gedanken äußern, aber auch bereit sein, andere Meinungen aushalten zu können.“ Als ihr auf Instagram eine Werbung für das überparteiliche Ausbildungsprogramm „Love Politics“ ausgespielt wird, ist sie sofort Feuer und Flamme. Hier werden „politische Talente in der Mitte der Gesellschaft“ gesucht und in neun Monaten und neun Modulen zu „Politiker:innen des 21. Jahrhunderts“ ausgebildet. 1300 Bewerber gibt es, Qorri ist eine von 35 Menschen, die eins der Stipendien erhalten. „Als Handwerksmeisterin und Nichtakademikerin in eine komplett neue Welt, das war das Beste, was mir passieren konnte“, erzählt die Neukirchen-Vluynerin.

Mittlerweile ist die 40-Jährige auf dem besten Weg Politik-Influencerin zu werden, denn seit einigen Wochen ist sie Teil der Kampagne „Raum für Demokratie“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Die suchte im Vorfeld der Bundestagwahl 1000 Orte in Deutschland, an denen Menschen einfach so ins Gespräch kommen. Für Taibe Qorri der perfekte Anlass, um „Politik im Friseurstuhl“ aus der Taufe zu heben. „Es gibt wohl kaum einen passenderen Fleck als den Friseursalon“, sagt sie. „Seit fast 25 Jahren bekomme ich hier die Sorgen und Nöte der Kunden mit, hier spielt das echte Leben.“ Immer mehr sei in ihr der Wunsch entstanden, für diese Menschen einzustehen, gerade weil sie als Mutter, Schulpflegschaftsvorsitzende, Selbstständige und Gastarbeiterkind viele der Probleme selbst kennt. „Jeder hier im Stuhl zählt“, ist sie überzeugt.

Drei Stühle, ein Tisch: Das ist Qorris Talkrunde

Bei jeder Runde gibt es Köstlichkeiten aus verschiedenen Ländern. (Foto: privat)
Bei jeder Runde gibt es Köstlichkeiten aus verschiedenen Ländern. (Foto: privat)

Kurz vor Weihnachten schreibt sie bei Instagram, was ihr Plan ist und wer Lust auf den Austausch hat. „Es haben sich viel mehr gemeldet, als ich dachte“, erzählt Qorri. Ihre Talkrunden, mittlerweile gab es schon vier, finden abends mitten im Salon statt, sie lädt immer zwei Gäste ein. Dazu gibt es Getränke und Köstlichkeiten aus verschiedenen Ländern. „Ich bereite keine Themen vor, aber meistens sind wir schon nach fünf Minuten so tief im Gespräch, dass wir die Zeit vollkommen vergessen.“ Einige wollen wissen, wie sie den Weg in die Politik gefunden habe, aber hauptsächlich gehe es ums Austauschen, voneinander lernen, auch ums Aushalten anderer Ansichten. „Das Tollste ist für mich, wenn Menschen, die hier waren, am Ende sagen, dass sie über das ein oder andere noch einmal nachdenken oder ihre Quellen hinterfragen wollen“, so Qorri. „Und wenn ich selbst auch wieder andere Sichtweisen erfahren durfte.“ Friseure, da ist sie sich sicher, hätten bis zur Wahl die Macht, noch viele Menschen zu erreichen.

Qorri hat sich bereits im vergangenen Jahr überlegt, dass sie mehr darüber lernen will, wie Politik vor Ort funktioniert, schaute sich um und fand bei den Grünen in Neukirchen-Vluyn das, was sie suchte. „Die haben mich sehr herzlich und unkompliziert aufgenommen, hier habe ich das Gefühl, sofort mittendrin zu sein und dass sie Weiterentwicklung zulassen“, begründet sie. Jetzt will sie Ratsmitglied werden, die Landespolitik hat sie aber auch schon im Blick. „Und manchmal sehe ich mich auch schon im Bundestag“, sagt sie mit einem Grinsen. Mit ihrer neuen Parteizugehörigkeit hat „Politik im Friseurstuhl“ aber nichts zu tun. „Ich mache hier keine Wahlwerbung und übrigens auch keine für meinen Salon“, stellt sie klar.

Taibe Qorri sucht noch Menschen, die teilnehmen wollen

Wer Interesse hat, an Taibe Qorris Format „Politik im Friseurstuhl“ teilzunehmen, kann eine Mail an taibe.qorri@gmail.com schreiben. Sie ist auf Facebook und Instagram unterwegs, auch dort kann man ihr eine Nachricht schreiben und sich auf die Liste setzen lassen.