Herne. Der Mörder Marcel Heße hat den Nachbarsjungen Jaden in seinem Mietshaus getötet. Heute wohnt dort eine andere Familie. Wie sie sich dort fühlt.
Vor sieben Jahren hat der damals 19-jährige Marcel Heße in Herne zwei Menschen brutal ermordert. In das Mietshaus im Ortsteil Unser Fritz, in dem der Täter lebte und in dem er Jaden, damals neun Jahre alt, heimtückisch tötete, zog bald nach der Tat eine neue Familie mit fünf Kindern ein. Die Mutter Julia (Name von Redaktion geändert) wohnt mit vier ihren Kindern noch immer dort. Die WAZ war zum exklusiven Hausbesuch in der Fleithestraße.
Wie kamen Sie zum Haus, in dem Marcel Heße wohnte?
Julia: Ich habe der Frau von der Vermietung (HGW) bei der Besichtigung nett gesagt, sie muss mir gar nichts vorgaukeln. Ich weiß, was hier passiert ist, und ich muss erst mal in den Keller und will keinen anderen Raum vorher sehen.
Sie meinen den Keller, in dem der Mord am kleinen Jaden passierte?
Genau. Ich brauchte ein Gefühl für diesen Ort, weil wir ja hier leben würden. Wäre etwas Störendes aufgekommen, wäre ich hier nicht eingezogen. Die Entscheidung fiel dann recht schnell. Ich hatte das auch noch mit meinen großen Kindern besprochen, der Älteste war damals 16. Beide sagten: „Mama, am Ende ist es dann doch auch nur ein Haus.“
Haben Sie Ihre Entscheidung – retrospektiv – bereut?
Nein, in keinem Fall. Wir suchten ja händeringend eine neue Wohnung, als getrennt erziehende Mutter mit fünf Kindern war das fast unmöglich. Im alten Zuhause in Wanne mussten wir immer erst vor die Tür treten, bevor wir rausgingen, damit wir die Ratten verscheuchten. Ein Mann der Stadtverwaltung stellte sich vor und gab uns den Tipp zum Haus. Ich hatte den Oberbürgermeister kurz vorher in meiner Verzweiflung direkt angeschrieben.
Das neue Zuhause war trotz allem ein Glücksfall für die große Familie, erwähnten Sie?
Stellen Sie sich das mal vor: Wir waren mehr als zwei Jahre vergeblich auf der Suche nach einer größeren Wohnung für meine fünf Kinder und mich. Dann kam das Angebot für ein eigenes Haus mit 140 Quadratmetern über drei Etagen und eigenem Garten, für unter 1000 Euro. Es sind ja sozial geförderte Häuser für Großfamilien.
Hatten Sie Einschränkungen?
Es ist alles okay – aber zum Beispiel zu Halloween hatten wir echte Manschetten. Jeder schmückt sein Haus, na ja, wir wollten auch mitmachen. Die Leute guckten und sagten, boah, das ist aber sehr mutig. Ja, aber es ist Halloween und die ganze Siedlung ist voll mit solcher Dekoration. Jetzt regt sich über den Friedhof im Vorgarten keiner mehr auf.
Kamen bei der Haus-Renovierung negative Gedanken auf?
Ich wusste schnell, dass dieses Fahndungsfoto von Heße, was durch ganz Deutschland und alle Medien ging, hier aus unserem Wohnzimmer kam. Da wurde vorher nichts renoviert. Deshalb war es auch das erste Zimmer, was gemacht wurde. Beim Renovieren im Haus haben wir auch irgendwelche Sachen gefunden, auch Kuscheltiere hinter der Heizung und alles voller Bundeswehrfarben in einem Zimmer. Da hat man sich schon gefragt, der hat wahrscheinlich hier in diesem Zimmer gewohnt.
Bekamen Sie oft Besuch von Reportern?
Anfangs war es schon heftig. Vor allem die TV-Reporter, die ohne zu fragen gedreht haben, in unsere Gärten gingen oder sogar unsere Kinder filmen wollten – die aber immer schnell abgehauen sind. Ich hatte öfter gesagt: Bitte respektiert unsere Privatsphäre und fragt uns, das wurde meist ignoriert. So waren zum Beispiel Fensterbilder unserer Kinder im Fernsehen zu sehen.
Und von Schaulustigen?
Die gab es sehr oft, vor allem an den Jahres- oder den Geburtstagen. Wie damals lagen dann Unmengen von Blumen und Stofftieren hier – das hat uns sehr berührt. Wenn man am Bahnhof ins Taxi einsteigt und unseren Straßennamen sagt, fragen die Fahrer manchmal noch heute: „Ach, Sie wollen zum Todeshaus?“ Gott sei Dank hat sich jetzt alles beruhigt, es ist Gras darüber gewachsen - soweit das möglich ist. Das ist auch gut so.
Was hat Sie am meisten geärgert?
Leute, die nicht verstehen wollten, dass hier jetzt jemand anders wohnt: völlig normale Menschen, die mit der alten Geschichte nichts zu tun haben. Aber trotzdem lastet eine Geschichte auf diesem Haus. Ich finde, man sollte rational damit umgehen, muss man ja. Soll das Haus lieber die ganze Zeit leer stehen? Oder ein Museum werden, ein Todesmuseum?
Wie denken Sie selbst über die Morde von damals?
Ich habe selbst als Tatortreinigerin gearbeitet, vielleicht konnte ich auch deshalb etwas rationaler an die Sache mit dem Haus rangehen. Ich weiß, dass ein Mord natürlich schlimmer ist als normale Todesfälle - und gerade dieser Mord, der hat ja alle extrem berührt. Wir hatten damals selber Angst um unsere Kinder, als er noch frei rumlief. Wir hatten unglaubliches Mitgefühl mit der Familie, die wir ja damals noch nicht kannten.
+++ Nachrichten aus Herne: Lesen Sie auch: +++
- Straße in Herne nach sieben Jahren Sperrung wieder frei
- Public Viewing in Herne: Fans feiern im Regen - viele Fotos
- Trinkgeld per Knopfdruck: Herner Gastronomen sind skeptisch
Wie kam es, dass sie als Tatortreinigerin gearbeitet haben?
Da bin ich durch Zufall so reingerutscht. Ich habe klassisch gesehen nichts Richtiges gelernt, aber immer gearbeitet. Das ist mir extrem wichtig. Auch als Vorbildfunktion für meine Kinder. Ich habe sehr früh meinen ersten Sohn bekommen und dann als mobile Pflegefachkraft gearbeitet. Als mein Chef die Firma auflöste, wurde mit der Job als Tatortreinigerin angeboten. Ich habe versucht, es als Arbeit anzusehen, aber nach einem halben Jahr lieber wieder als Pflegehilfskraft begonnen.
Wie sind Ihre Gedanken zum Mörder Marcel Heße?
Oh je. Was soll man dazu sagen? Mein großer Sohn kannte ihn tatsächlich aus der Schule. Wir hoffen, dass er nicht so schnell wieder frei kommt oder ausbricht aus dem Schwerverbrecher-Knast.
Weitere Informationen: Verurteilt nach Erwachsenenstrafrecht
- Die Tat: Anfang März 2017 ermordete Marcel Heße zunächst den neunjährigen Nachbarsjungen Jaden und einen Tag später, auf der Flucht, seinen früheren Schulfreund Christopher (22). Kurz nach den Morden verschickte er Bilder seiner Opfer per Whatsapp und rühmte sich im Internet seiner Taten. Drei Tage lang war er auf der Flucht, bis er in einem griechischen Imbiss in Herne-Baukau auftauchte und sich der Polizei stellte.
- Das Urteil: Marcel Heße wurde Anfang 2018 für den Doppelmord zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Gutachter hatten den Herner für voll schuldfähig befunden. Verurteilt wurde der damals 20-Jährige nach Erwachsenenstrafrecht.
- Die Zukunft: Mit seinem Urteil entsprach das Gericht seinerzeit dem Antrag des Staatsanwaltes, der die besondere Schwere der Schuld hervorgehoben hatte. Eine Freilassung nach 15 Jahren ist in der Praxis ausgeschlossen. Auch eine spätere Unterbringung in Sicherungsverwahrung behielt sich das Gericht vor - so wie es die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Das ist in Deutschland das höchstmögliche Urteil.