Herne. Der Ukrainer Sergiy Plyuta lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Wie er die Solidarität der Deutschen erlebt und was aus seiner Sicht falsch läuft.

Sergiy Plyuta hat in seinem „Tanzpott“ an der Bahnhofstraße einen Wasserschaden. Was normalerweise viele Nerven kosten würde, erscheint ihm nun nichtig. „Eine Welt ohne Krieg kommt mir gerade wie ein Traum vor“, sagt der gebürtige Ukrainer. Der 43-Jährige lebt seit 20 Jahren in Deutschland, betreibt in Herne und Gelsenkirchen zwei Tanzschulen. „Ich kam damals alleine nach Deutschland, meine Familie und Freunde leben alle noch dort.“ Dort, wo seit vergangener Woche Krieg herrscht, sich Familien trennen und ukrainische Männer erbittert ihr Land verteidigen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Täglich steht Plyuta im Austausch mit seiner Familie und seinen Freunden. Vater und Schwester in Khmelnytskyi im Westen des Landes, der Onkel in Kiew und die Freunde über das gesamte Land verteilt oder sogar auf der Flucht – alle berichten sie von ihren Eindrücken, bitten um Hilfe oder wollen sich ihre Last von der Seele reden. Plyutas Handy klingelt, Schwester Tanja ruft an, mit guten Nachrichten. An die Alarm-Sirenen im Hintergrund scheinen sich beide mittlerweile gewöhnt zu haben. „Eine befreundete Familie ist in Bukarest im Hotel angekommen“, übersetzt der Tänzer nach dem Telefonat. „Wenn alles nach Plan läuft, kommen sie bald schon in Herne an.“

In seiner Tanzschule „Tanzpott“ plant Sergiy Plyuta eine Charity-Party um Spenden für die Ukraine zu sammeln.
In seiner Tanzschule „Tanzpott“ plant Sergiy Plyuta eine Charity-Party um Spenden für die Ukraine zu sammeln. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Herner aus der Ukraine: „Ich war zerrissen“

Die ersten Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen erlebte der Herner „in totalem Schock.“ Das Geschehene könne er bis heute nicht so ganz begreifen. „Wenn man nicht vor Ort ist, kann das Gehirn das einfach nicht richtig verarbeiten, denke ich.“ Bis zuletzt sei er fest davon überzeugt gewesen, dass es nicht zum Krieg kommen würde. Das Gefühl der Machtlosigkeit schien ihn zunächst zu erdrücken. „Ich wollte meine Familie direkt hierher holen“, erzählt er. „Ich war zerrissen, weil ich nicht wusste, wie ich handeln soll.“ Die Verzweiflung sei der Entschlossenheit gewichen. „Ich habe begriffen, dass ich hier am besten helfen kann.“

Sergiy Plyuta arbeite eng mit der Koordinierungsstelle der Stadt zusammen. „Es geht jetzt vor allem darum, den Familien, die hier ankommen, eine Realität zu geben.“ Gerade Kinder bräuchten einen geregelten, möglichst normalen Alltag – und das auf lange Sicht. „Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend und es ist gut, dass es so viel akute Nothilfe gibt“, sagt Pyuta. „Aber wir müssen uns auch auf langfristige Hilfen einstellen.“ Der Ukrainer wirkt gefasst, geradezu stoisch. „Wie viele Halb- und Vollwaisen wird es allein schon geben, wie viel Reparaturarbeit wird zu leisten sein?

Ukraine: Sachspenden müssen zielgerichtet sein

In den Krisengebieten seien gerade medizinische Versorgung, lagerfähige Nahrung, Milchpulver für Säuglinge und mobile Stromerzeuger gefragt. „Gezielte Hilfe ist wichtig, sonst stapeln sich die Spenden, ohne, dass sie jemandem nützen.“ Aktionismus sei ein hartes Wort, schließlich stehe hinter jeder Spende ein guter Wille, „aber man muss Geduld haben und auf die entscheidenden Informationen warten.“

Über den Messengerdienst „Viber“ informiert sich Sergiy Plyuta laufend über die Entwicklungen in der Ukraine. Kiew ist unter anderem sehr stark von Kriegsschäden betroffen.
Über den Messengerdienst „Viber“ informiert sich Sergiy Plyuta laufend über die Entwicklungen in der Ukraine. Kiew ist unter anderem sehr stark von Kriegsschäden betroffen. © Unbekannt | oh

Neben dem Kontakt zu Familie und Freunden, sei „Viber“ – ein Messengerdienst, der mit Whatsapp vergleichbar ist – Plyutas wichtigste Informationsquelle. „Dort wird unabhängig informiert und es werden Fake News identifiziert.“ In einem Kanal namens „Molnija“, Ukrainisch für Blitz, dokumentieren Bilder und Videos, in denen Zivilistinnen und Zivilisten zu Wort kommen, das Ausmaß der immensen Schäden. „Man muss vorsichtig sein, man scrollt immer weiter und verliert sich sehr schnell darin“, sagt Sergiy Plyuta.

„Es hat sich eigentlich alles um 180 Grad gedreht“

Ein Telefonat mit einem Freund aus Kindertagen habe ihm die Absurdität der aktuellen Lage vor Augen geführt. „Er hat mir da ganz locker erzählt, dass er jetzt eine Waffe hat und seine ersten Molotow-Cocktails baut“, erzählt Plyuta. „So, als würde er mir sagen, dass er gleich noch ins Fitnessstudio geht. Für ihn ist das ganz normal.“ Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien gefasst, „mit der Annexion der Krim und dem Donbas-Konflikt waren sie mental auf das alles schon vorbereitet.“ Dennoch: „Es hat sich eigentlich alles um 180 Grad gedreht.“ Aus den Bruderstaaten Russland, Belarus und der Ukraine seien Feinde, aus dem Westen ein großer Unterstützer geworden.

>>> Charity-Party geplant

  • Am Samstag, 19. März, soll im Tanzpott Herne eine Charity-Party stattfinden. Sämtliche Erlöse gehen an Notleidende in der Ukraine. „Wir arbeiten gerade noch an den Details“, so Sergiy Plyuta.
  • Ab 15 Uhr soll es ein offenes Zumba-Event geben, für den Abend ist ein Tanzabend geplant. Weitere Details sollen in Kürze bekannt gegeben werden.