Eine gute Show braucht eine ausgefeilte Dramaturgie, einen Anfang zum Aufwärmen, nach und nach Spannung, zum Schluss den Stargast. Im Biergarten von Panagiotis Panagiotidis und Patrick Arens an der Hauptstraße gilt dieses Gesetz nicht. Karaoke funktioniert anders.
Es ist Mittwochabend, es ist frisch, es regnet, keine Aussicht auf Wetterbesserung. Und doch haben sich Zuschauer eingefunden, die schon um kurz nach 19 Uhr nach „Carmen!, Carmen!, Carmen!” verlangen. „Jetzt ruft er mich wieder”, sagt die 53-Jährige, als auch Moderator Panagiotidis den Publikumswunsch bekräftigt. Carmen legt Regenschirm und Handtasche zur Seite, eilt nach vorn, betritt die Bühne und spürt den Hauch von Glück. Das, so die Liedzeile, will sie im Zug nach Osnabrück gefunden haben. Doch für Carmen liegt vielleicht für drei Minuten und 20 Sekunden das ganz persönliche Glück auf der kleinen Bühne eines Hinterhofes in Crange. An zehn Kirmesabenden, immer zu Beginn, einmal zwischendurch und nochmal zum Abschluss der Veranstaltung. Lampenfieber kenne sie nicht, es mache ihr einfach Spaß, auf der Bühne zu stehen.
Seit 13 Jahren gibt es den Karaoke-Biergarten, seit zwölf Jahren ist Carmen dabei. „Sie kam, sie wollte auf die Bühne und dann sind die Leute ausgeflippt”, erinnert sich Panagiotidis an Carmens ersten Auftritt. Inzwischen gibt es eine CD mit einem musikalischen Rückblick auf zehn Jahre Karaoke mit Carmen, sie verteilt Autogrammkarten, kann für Geburtstagsfeiern, Polter-abende und Hochzeiten gebucht werden.
Gesang ist es sicherlich nicht, schon gar kein schöner Gesang, der da auf die Membrane des Mikrofons trifft. Laut und heiser ist ihre Stimme, die eher bellt als singt. Aber Carmen ist textsicher, trifft jeden Einsatz, braucht erst recht keine Untertitel. Das ist viel mehr, als man von Karaoke erwarten kann. Und sie steht sicher auf der Bühne, hat keine Scheu, stampft mit den Füßen im Rhythmus der Musik. Im Scheinwerferlicht zu stehen, macht ihr sichtlich Spaß, gibt ihr Selbstvertrauen. Das Lächeln auf den Lippen der Zuschauer, der Applaus und die Anfeuerungsrufe schwingen zurück zur Bühne zu einem Gefühl, akzeptiert zu sein. Carmen erzählt nicht viel aus ihrem Leben, aber man ahnt, dass es kein leichtes ist, dass die Kindheit alles andere als unbeschwert war. „Der Gesang gibt mir viel”, sagt sie. Natürlich ist Carmens Auftritt schräg und das Publikum hat seinen Spaß, aber niemand ergötzt sich daran.
„So”, sagt Carmen, „jetzt sind andere auch mal dran.” Zum Beispiel die Männer aus der Mittwochsrunde, die sich immer am Kirmesmittwochabend im Karaoke-Garten einfinden und nacheinander den Weg zur Bühne finden. Freiwillig oder vorgeschlagen von den anderen. Kasi gibt Johnny Cash und „Ring Of Fire”, Reiner versucht sich als Frank Sinatra, schmettert „New York, New York”, und Tommy bekennt wie Udo Jürgens: „Ich war noch niemals in New York”. Sie mühen sich redlich, das Original zu erreichen, und kämpfen tapfer gegen Betonung, Takt und Tempi an. Aber darum geht es auch gar nicht beim Karaoke. Im Vordergrund steht der Spaß, schon gar nicht der belcanto. Als Panagiotis Vater mit „Karaoke bei Dimi” an der Kurhausstraße in Wanne-Süd begann, gehörten zur Musikanlage gerade einmal vier DVD, heute können die Mutigen in einer Datenbank unter 10 000 Liedern auswählen. Feten-Hits werden gewünscht, aber auch Oldies und deutsche Schlager von „Mendocino” bis zum „Griechischen Wein”. Und noch einmal fährt der Zug nach Osnabrück. Mit Carmen auf der Suche nach dem Glück.