Herne. Elf Jahre hat Dr. Wolf Diemer (66) die Palliativstation am Ev. Krankenhaus Herne geleitet. Jetzt verlässt er sie - und macht ambulant weiter.

Mit 66 Jahren verlässt Dr. med. Wolf Diemer zum Monatsende die Palliativstation des Evangelischen Krankenhauses (EvK) Herne, die er elf Jahre geleitet hat. Der Palliativmedizin bleibt er aber weiter treu: Als Arzt im ambulanten Palliativmedizinischen Konsiliardienst Herne/Castrop-Rauxel wird er seine ambulanten Patienten weiter versorgen, in Zusammenarbeit mit den Evangelischen Krankenhäusern in Herne-Mitte und Eickel. WAZ-Redakteurin Ute Eickenbusch hat ihn getroffen.

Herr Dr. Diemer, Sie haben viele Jahre die Palliativstation geleitet, davon das letzte Jahr unter Corona-Bedingungen. Was war anders?

Diemer: Auf der Station konnten die Angehörigen kaum noch zu den Betroffenen kommen, immer nur einer und der durfte nicht mal wechseln. Gerade ab vorgestern hat sich das glücklicherweise wieder geändert. Jetzt gilt die 3G-Regel: Getestete, Geimpfte oder Genesene dürfen einzeln mit Voranmeldung zu Besuch kommen, und es muss nicht mehr immer dieselbe Person sein.

Wie wichtig sind die Angehörigen?

Total wichtig. In der stationären Situation brauchen die Patienten viel Zuwendung von den Angehörigen. Einerseits sollen die Angehörigen angeleitet werden und in den Pflegeprozess mit einbezogen werden. Andererseits sind sie auch für die seelische Gesundheit des schwer Erkrankten ganz wichtig. Da ist es schön, dass jetzt wieder die Ehefrau oder zum Beispiel auch mal auch eines der Kinder kommen kann. Dass überhaupt jemand zu Besuch kommen konnte, war schon sehr wichtig. Denn die Vereinsamung bedeutet für die schwer kranken Menschen zusätzliches Leid.

Aber den Betrieb der Palliativstation konnten Sie aufrechterhalten?

Wir hatten nur einmal einen Corona-Ausbruch, so dass die Station für 14 Tage geschlossen war. Das war natürlich bedauerlich, weil es gerade in Corona-Zeiten eher mehr Bedarf an Palliativversorgung gibt als weniger.

Weil unter den Palliativpatienten auch Corona-Patienten waren?

Genau. Also Menschen, die schon vorher Palliativpatienten waren und dann zusätzlich am Covid-Virus erkrankt sind. Und wir hatten auch Patienten, die nach der Covid-Erkrankung ganz verändert waren, mit sehr starkem Müdigkeitssyndrom, Schwäche und Schlappheit.

Vor dem 25-jährigen Jubiläum der Palliativstation 2017: Dr. Wolf Diemer mit seinem Team (Christine Heydecke, stellv. Stationsleitung, Hanna Szibalski, Sozialarbeiterin, und Karola Rehrmann, Seelsorge).
Vor dem 25-jährigen Jubiläum der Palliativstation 2017: Dr. Wolf Diemer mit seinem Team (Christine Heydecke, stellv. Stationsleitung, Hanna Szibalski, Sozialarbeiterin, und Karola Rehrmann, Seelsorge). © FUNKE Foto Services | Joachim Haenisch

Sie haben ein multiprofessionelles Team. Wie wichtig ist das in Ihrer Arbeit?

Das ist für die Palliativversorgung absolut entscheidend: Zum Team gehören die Pflegenden mit palliativmedizinischer Fachausbildung, die Seelsorger, die Physiotherapeuten, die Sozialberaterinnen und Psychoonkologinnen sowie die Palliativärzte und natürlich die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Jeder trägt sein Scherflein bei, und daraus wird die umfassende und ganzheitliche Arbeit, die wir in der Palliativversorgung brauchen, um die Patienten und ihre Angehörigen gut unterstützen zu können. Wir bemühen uns ja auch darum, in der ambulanten Versorgung ähnliche Palliativ-Teams zu bilden. Aber da gibt es bisher noch kaum Sozialarbeiter und auch nur wenige Seelsorgerinnen oder Psychoonkologinnen.

Welche Rolle spielen die Ehrenamtlichen?

Dr. Wolf Diemer mit Mitgliedern der Initiative „Aktiv für Palliativ“. Sie engagieren sich ehrenamtlich für die Palliativstation.
Dr. Wolf Diemer mit Mitgliedern der Initiative „Aktiv für Palliativ“. Sie engagieren sich ehrenamtlich für die Palliativstation. © Unbekannt | EvK

Wir hatten sonst immer morgens und nachmittags eine oder einen Ehrenamtlichen, die mit den Patienten sprechen und sich ihre Nöte und Sorgen anhören oder ihnen auch mal was zu essen oder zu trinken brachten und einfach da waren. Das Wichtige ist die Normalität, die die Ehrenamtlichen in unsere Arbeit hineinbringen: dass hier nicht nur Weißkittel herumlaufen, sondern auch ganz normal aussehende Menschen, mit denen man normal reden kann. Für unsere Patienten ist das ganz wichtig, dass ihnen auch mal jemand vorliest oder sich mit ihnen beschäftigt, zumal Musiktherapie oder Kunsttherapie in der Corona-Zeit auch nicht durchgeführt werden konnten. Die Ehrenamtlichen sind eine ganz wesentliche Stütze der Palliativarbeit.

Was ist Ihnen persönlich bei Ihrer Arbeit auf der Station besonders wichtig gewesen?

Ich habe eine Facharztausbildung als Anästhesist, weil ich der Doktor werden wollte, der immer in jeder kritischen Situation etwas tun kann. Der zupackt, bei jedem Unfall, jeder OP und jedem lebensbedrohlichen Zustand erst mal helfen kann. Dann habe ich eine Schmerztherapie-Zusatzausbildung gemacht, und es wurde mir immer wichtiger, mich dem Patienten als ganzer Person zu widmen und nicht nur dem Trauma oder der Verletzung. Mit ihm als Person zu arbeiten und nicht nur als „Darmkrebs von Zimmer 6“. Gerade in der Situation, in der viele denken, jetzt gibt es Morphium, jetzt kann man nicht mehr viel für den Einzelnen tun, der stirbt ja sowieso, kann man aus der Sicht der Palliativmedizin noch ganz viel für jeden einzelnen Patienten tun.

Zum Beispiel?

Nicht nur seine Biografie erfragen, sondern insbesondere auch die Krankheitszustände, unter denen er leidet. Das können nicht nur körperliche Beschwerden sein, wie Schmerzen oder Luftnot, sondern auch seelische oder spirituelle Nöte. Wir arbeiten nach dem bio-psycho-sozialen Modell, weshalb wir die verschiedenen Berufsgruppen brauchen, die alle gemeinsam mit dem Patienten arbeiten, um die verschiedenen Aspekte seines Leidens adäquat lindern zu können. Und das ist das Tolle in der Palliativversorgung, das es in manch’ anderem Bereich der Medizin nicht gibt, besonders, weil heute alles immer schneller gehen muss. In der Palliativversorgung haben wir die Möglichkeit, die Bedürfnisse des Betroffenen und seiner Angehörigen zu berücksichtigen und das ist über die Jahre für mich immer wichtiger geworden.

Hat sich der Palliativgedanke in den vergangenen Jahren in der Gesellschaft durchgesetzt?

Die Palliativmedizin hat sich seit den 80er-Jahren in Deutschland entwickelt, und am Anfang hatten wir gegenüber dem Ausland einen relativ starken Entwicklungsrückstand. Erst seit zehn oder 15 Jahren sind wir in einer Stabilisierungsphase. Das ist auch in der Bevölkerung sicher angekommen. Auf der anderen Seite erleben wir immer wieder, dass Menschen trotzdem sagen: „Oh, ihr wollt mich auf die Palliativstation verlegen, ist das nicht die letzte Station hier im Haus?“ Und wenn man sagt, jetzt müsse es ins Hospiz gehen, heißt es: „Stirbt man denn da nicht?“ Wir sagen zwar jedem ängstlichen Menschen, der auf unsere Station kommt oder ins Hospiz wechseln soll, dass er dort keinen Tag eher stirbt, aber oft können die Menschen sich erst über das Leben auf der Palliativstation oder im stationären Hospiz freuen, wenn sie die intensive Zuwendung und medizinisch-pflegerische Betreuung selbst kennengelernt haben. Bei uns geht ja anders als in einem Hospiz über die Hälfte der Patienten wieder nach Hause oder auch in eine stationäre oder hospizliche Pflegeeinrichtung. Wenn es dann aber zu Hause schlechter geht, können die Patienten auch wieder auf die Palliativstation zurückkommen. Wir beteiligen uns ja auch an der ambulanten Versorgung. Ich mache bisher abends Besuche bei Palliativpatienten zu Hause, in Altenheimen oder in den umliegenden Hospizen.

Würden Sie sich mehr Betten für Ihre Station wünschen?

Ich habe mir zehn Jahre lang mehr Betten gewünscht und hatte auch gehofft, Zimmer dazu zu bekommen, als die HNO-Station ausgezogen ist. Das hat sich aber nicht ergeben. Seit letzter Woche wissen wir, dass jetzt der Bauantrag gestellt worden ist für eine Erweiterung der Palliativstation: fünf Zimmer, davon vier Patientenzimmer und ein Wohnzimmer, so dass wir voller Hoffnung sind, dass die Palliativstation zum 30-jährigen Jubiläum im nächsten Jahr von bisher fünf Zimmern auf acht Zimmer vergrößert werden wird.

Haben Sie momentan Wartelisten?

Neben den etwa 200 Patienten, die wir jährlich auf der Palliativstation behandeln, gibt es bisher über 100 Menschen, die jedes Jahr auf unserer Warteliste stehen und dann doch nicht mehr aufgenommen werden können, zum Beispiel, weil sie versterben, bevor ein Platz für sie frei wird. Die Möglichkeiten, Patienten zu versorgen, werden sich mit der Erweiterung deutlich verbessern. 2010 haben wir noch befürchtet, dass die damals neue ambulante Palliativversorgung dazu führen könnte, dass wir kaum noch Patienten auf der Palliativstation haben würden. Aber das ist nicht eingetreten. Die Patienten, die jetzt hierherkommen, sind allerdings deutlich schwerer krank als vor zehn Jahren. Diejenigen, die ambulant versorgt werden können, werden jetzt ambulant versorgt, aber die Schwerkranken brauchen nach wie vor eine Palliativstation.

Zur Person

Wolf Diemer ist 1955 in Oberhausen geboren. Nach dem Abitur in Oberhausen Studium und Facharztweiterbildung an der Uniklinik in Münster. Weitere Stationen: Schmerztherapieausbildung in Münster und Bochum, Uniklinik Greifswald, dort Aufbau einer Schmerzambulanz und Durchführung eines Modellprojektes des Bundesgesundheitsministeriums zur ambulanten Palliativversorgung.Seit Ende 2009 Leiter der Palliativstation am EvK Herne und Mitarbeit in der ambulante Versorgung. Nebenbei Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten aus anderen Fachgebieten sowie Pflegenden, Seelsorgern und Physiotherapeuten in der Palliativmedizin.

Wie lange bleiben die Patienten?

Die durchschnittliche Liegedauer ist etwa zehn Tage. Den Palliativpatienten werden drei Tage mehr zugestanden als jemandem mit einer heilbaren Erkrankung, weil es oftmals schwieriger ist, die Weiterversorgung zu organisieren. Es müsse ja Hilfsmittel wie Pflegebetten, Rollatoren, Badewannenlifter und so weiter organisiert werden, ebenso der Pflegedienst oder die Ehrenamtlichen. Viel schwieriger ist es noch, einen teilstationären oder stationären Aufenthalt in der Kurzzeitpflege oder im Hospiz für die Patienten zu organisieren.

Sie haben angekündigt, sich nicht ganz zurückzuziehen aus der Palliativmedizin. Was haben Sie vor?

Die Arbeit auf der Station werde ich in die Hände meiner Nachfolgerinnen legen. Da bin ich sehr froh, dass wir ganz tolle Ärztinnen gefunden haben. Dem Team der ambulanten Versorgung habe ich versprochen, dass ich die nächsten Jahre weiter dabeibleiben werde und mehrere Tage der Woche die ambulanten Palliativpatienten mit weiter betreue. Ehrenamtliche Tätigkeiten habe ich auch noch vor. Ich wohne hinter Witten auf dem Berg, da möchte ich in dem etwas ländlicheren Areal ein stationäres Hospiz mit aufbauen helfen. Ich habe nicht vor, sofort den Löffel fallenzulassen oder nur noch auf Reisen zu gehen. Privat möchte ich mal mehr Zeit haben, um ein Kunstmuseum oder Konzerte zu besuchen. Und ich würde mir wünschen, Gitarre spielen zu lernen.