Heiligenhaus. Täglicher Luftalarm, Stromausfall: Die ukrainische Familie Lobachov hat ihre Heimat verlassen auf der Suche nach Frieden. Den finden sie auch durch die Familie Jorgel in Heiligenhaus.

Der Kuchen ist noch warm, der Tee mit frischen Kräutern aufgesetzt. Renate und Janus Jorgel setzen sich an den Wohnzimmertisch zu Volodymyr, Dariia, Sofiia und Ksenia Lobachov. Sie alle wohnen unter einem Dach in der Heiligenhauser Heide. Vor zwei Jahren kannten sie sich noch nicht, heute wirkt es wie ein gemütliches Familienkaffeetrinken. 1500 Kilometer lagen zwischen ihnen, dann flüchteten die Lobachovs, als der Krieg in der Ukraine begann. Die beiden Familien stehen beispielhaft für viele andere in Heiligenhaus: Wieso Integration hier besonders gut zu klappen scheint.

Als der Krieg in der Ukraine losging, war da direkt Angst, erinnert sich Dariia Lobachov. „Wir haben in einer Kleinstadt in der Nähe von Kiew gelebt, in Smila. Wir haben erst abgewartet nach dem Angriff und am Anfang noch Hoffnung gehabt, dass das alles schnell vorbei ist“, erinnert sich die 39-Jährige. Doch nach einem Monat sei ihr klar geworden, dass es dazu nicht kommen wird, „wir hatten Angst, immer nur Angst, da haben wir uns entschieden, dass wir unsere Heimat verlassen. Damals dachten wir, dass wir nach ein paar Wochen vielleicht wieder zurückkönnen“. Mit einer Freundin flüchteten sie mit insgesamt drei Kindern, ihre Tochter Ksenia ist heute elf Jahre alt.

Heiligenhauser Familie Stark kümmerte sich um eine Bleibe

Durch Kontakte der Freundin zu einem Ehepaar aus Düsseldorf ging es direkt nach Heiligenhaus, „wir haben zuerst bei der Familie Stark gewohnt“, erinnert sich Dariia zurück. Ganz warmherzig sei man empfangen worden, habe schnell eine Beziehung aufbauen können zur Familie Stark. „Man hat sich ganz lieb um uns gekümmert, aber wir hatten quasi nur ein Zimmer, das wurde dann doch etwas eng“. Eine andere Lösung musste her.

Von links nach rechts: Dariia, Ksenia, Sofiia, Volodymyr Lobachov sowie Renate und Janus Jorgel im gemeinsamen Garten in der Heiligenhauser Heide.
Von links nach rechts: Dariia, Ksenia, Sofiia, Volodymyr Lobachov sowie Renate und Janus Jorgel im gemeinsamen Garten in der Heiligenhauser Heide. © FUNKE Foto Services | Sebastian Sternemann

Zur gleichen Zeit schlug auch das Schicksal bei den Jorgels zu: „Zuerst starb mein Bruder, nur drei Wochen später meine Mutter“, berichtet Renate Jorgel mit schwerer Stimme, „das war ein ganz schöner Schlag und eine schlimme Zeit“. Eng hatte man bis dahin unter einem Dach gelebt, unten das Ehepaar, die Mutter in der Wohnung darüber. „Mein Mann sagte dann, jetzt müssen wir alles renovieren, aber er hatte da eigentlich keine Lust zu“. Janus Jorgel schaut sich in der gepflegten Wohnung um: „Alte Eiche, das war früher ein Qualitätsmerkmal, aber heute wird man das ja alles nicht mehr los. Die jungen Leute wollen das nicht mal geschenkt haben“.

Jorgels kennen das Gefühl, eine neue Heimat zu suchen

Das Ehepaar überlegte, was es jetzt machen sollte, „dann sagte unsere Tochter, dass die Stadt möblierte Wohnungen für ukrainische Geflüchtete sucht. Da war für uns klar, das wollen wir machen“. Immerhin seien beide Jorgels vor vielen Jahren auch neu in diesem Land gewesen, „wir kommen aus Polen und wissen, wie es ist, wenn man seine bisherige Heimat verlässt und ein komplett neues Leben beginnen muss“.

Die Starks und Jorgels kennen sich zudem, „ich bin auch Tagesmutter“, berichtet Renate Jorgel. Der Kontakt zur Familie Lobachov kam zustande und kurze Zeit später zog Dariia mit Tochter Ksenia ein. „Wir fühlen uns hier richtig wohl, es ist sehr groß und wir hatten sofort Möbel“, blickt sich Dariia fröhlich um. Mit Händen, Füßen, ein wenig Polnisch und Russisch konnte man sich anfangs verständigen, „irgendwie hat es geklappt“, lachen sie alle gemeinsam.

Schnell Arbeit als Steinmetz in Velbert gefunden

Vor einem Jahr ungefähr konnte auch der 41-jährige Volodymyr nach Deutschland kommen. „Ich bin Steinmetz und konnte mich hier schnell um einen Job bemühen“, freut er sich, dass er nun bei dem Velberter Unternehmen Rees & Söhne arbeitet. Da sei die deutsche Sprache zunächst nicht wichtig gewesen, da es sich um ein Handwerk handele, doch mittlerweile sprechen die Lobachovs sehr gut Deutsch: „Uns ist es wichtig, dass wir die Sprache sprechen und verstehen können, ich konnte viel auf der Arbeit lernen“, berichtet Volodymyr. Außerdem sei er sehr kommunikativ, pflichtet Janus Jorgel lachend bei: „Er kennt jetzt schon die ganze Nachbarschaft“. Mit Jorgels Sohn gehe er auch ab und zu angeln, „ich bin jetzt dabei, den Fischereischein zu machen“.

„Heljens hilft Ukraine“ hatte sich in Heiligenhaus gegründet, um Hilfsaktionen unter einem Dach zu bündeln. Die Ukrainer bedankten sich beim Stadtfest mit traditionellem Essen.
„Heljens hilft Ukraine“ hatte sich in Heiligenhaus gegründet, um Hilfsaktionen unter einem Dach zu bündeln. Die Ukrainer bedankten sich beim Stadtfest mit traditionellem Essen. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Nicht über einen Job, sondern durch viel Unterricht klappt es mit der deutschen Sprache auch bei Dariia: „Kontakte zu knüpfen ist nicht ganz so einfach, ich habe bislang eher Kontakt zu ukrainischen Frauen. Aber ich spreche viel Deutsch mit meiner Lehrerin und mit den Jorgels“. Dennoch versuche sie auch, einen Job zu finden. „Ich bin Psychologin, würde gerne im Bereich Kita oder Schule arbeiten. Aber das System hier ist anders“, so Dariia Lobachov. Da werde es schwer, in dem Bereich was zu finden, „ich würde aber auch kellnern, ich gehe bald auch Probearbeiten“. Erst habe sie Angst gehabt, dass ihr Deutsch dafür noch nicht gut genug sei, „aber die Menschen hier sind sehr lieb, und manchmal muss man dann noch ein paar Mal nachfragen oder einfach sagen, Entschuldigung, das habe ich nicht verstanden. Dann findet man andere Worte und dann geht es“.

Tochter Ksenia wünscht sich mehr Toleranz anderer Kinder

Und durch Tochter Ksenia, die schon fast fließend die neue Sprache gelernt hat, lernen Mama und Papa auch noch dazu. Nach einem Jahr in der Grundschule folgte schon ein weiteres Jahr auf der Gesamtschule: „Ich gehe bald in die sechste Klasse. Ich mag es da sehr, Sport und Kunst sind meine Lieblingsfächer“, berichtet die Elfjährige. Gerne würde sie auch Basketball spielen. Sie lebt gerne hier, auch das Freibad hat sie schon besucht, geht schon alleine zur Schule, fühlt sich wohl.

Raketenangriff auf die Großküche einer örtlichen Psychiatrie im ukrainischem Charkiw im April 2024: Luftalarme gehörten auch für Sofiia zum Alltag.
Raketenangriff auf die Großküche einer örtlichen Psychiatrie im ukrainischem Charkiw im April 2024: Luftalarme gehörten auch für Sofiia zum Alltag. © FUNKE Foto Services

Mittlerweile, denn auf der Grundschule sei es nicht immer einfach gewesen als ukrainisches Flüchtlingskind: „Da waren einige Kinder nicht nett zu mir“. Sie würde sich wünschen, dass Kinder netter sind zu anderen ukrainischen Kindern, die völlig neu sind in ihrer neuen Heimat und anfangs eben noch kein Deutsch sprechen könnten. Aber an der Gesamtschule sei das zum Glück kein Thema mehr.

Luftalarm gehörte für Tochter Sofiia zum Leben dazu

Erst vor zwei Wochen dazugestoßen ist die 17-jährige Sofiia, Volodymyrs Tochter, die bislang mit ihrer Mutter trotz des Krieges in der Ukraine geblieben war. „Man gewöhnt sich an alles“, berichtet sie aus dem Leben in einem Land, in dem Krieg herrscht. Gewöhnen würde man sich an die „air alerts“, die Luftalarme oder das Leben ohne Elektrizität, „im Winter hatten wir Stromausfall und auch jetzt wieder im Sommer“. Das Leben habe dennoch halbwegs „normal“ stattfinden können, „ich konnte mich mit Freunden treffen, und nach der ersten Zeit, in der wir online Schule hatten, konnten wir auch wieder zur Schule gehen“. Luftalarm gehörte halt zum Alltag.

Nun habe sie ihren Schulabschluss gemacht und sich doch entschieden, zu ihrem Vater und der Familie zu ziehen. „Ich möchte gerne studieren, entweder Philosophie oder etwas im Bereich Marketing“. Fließend spreche sie bislang nur Englisch, damit komme sie schon weiter, „aber ich will jetzt Deutsch lernen und dann an einer Universität studieren, am liebsten in Düsseldorf“, so die 17-Jährige. Jetzt geht es erstmal an ein Studienkolleg. Hier in Deutschland sehe sie ihre Zukunft, auch wenn sie ihre Heimat schweren Herzens verlassen musste.

So kann Integration gelingen: Neue Heimat Deutschland

Dass es keine leichte Entscheidung sei, neu anzufangen in einem anderen Land, betonen Dariia und Volodymyr. „Aber wir sehen hier unsere Zukunft, gerade für unsere Tochter“, schaut Dariia liebevoll Ksenia an. „Hier ist alles friedlich, ich muss mir keine Sorgen machen. Wir haben in der Ukraine auch in einer Kleinstadt gelebt, große Städte mögen wir nicht so gerne“. Man sei so freundlich aufgenommen worden, „im Internet liest man oft von unfreundlichen Deutschen, das haben wir hier nicht erlebt, ganz im Gegenteil“. Ob sie einmal zurückwollen, sollte Frieden in der Ukraine einkehren? Da hat Ksenia eine schnelle Antwort parat: „Nein, ich lebe hier gerne, ich will hier bleiben“.

Jonathan Köhlinger, links, und Sozialdezernentin Maike Legut freuen sich, dass viele Heiligenhauser Unterkünfte für ukrainische Geflüchtete zur Verfügung stellten.
Jonathan Köhlinger, links, und Sozialdezernentin Maike Legut freuen sich, dass viele Heiligenhauser Unterkünfte für ukrainische Geflüchtete zur Verfügung stellten. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Integration kann eben sehr gut gelingen – wenn alle Seiten es wollen, freut sich auch Jonathan Köhlinger von der Stadt Heiligenhaus: „Herr Jorgel und seine Frau pflegen eine besondere und enge Beziehung zu der Familie. Sie schauen zum Beispiel zusammen Fußball und verbringen die Abende gemeinsam. Sie haben einen großen Anteil daran, dass die Familie ihre Integrationsschritte so schnell gehen konnte. Es nicht das einzige, aber ein repräsentatives Beispiel dafür wie Integrationsprozesse gut gelingen können.“