Heiligenhaus.. Der Spiegel-Autor Peter Wensierski hatte im VHS-Erzählcafé jede Menge zu erzählen – und machte Moderator Peter Ihle fast arbeitslos. Über zweieinhalb vergnügliche Stunden mit einem engagierten Journalisten.


Es nennt sich „Erzählcafé“, und der Gast, den Peter Ihle im VHS-Haus begrüßen konnte, hat viel zu erzählen: Peter Wensierski, 1954 in Heiligenhaus geboren, 1973 nach Berlin ausgewandert, um Journalist zu werden. Beiträge über die DDR für den evangelischen Pressedienst haben ihn bekannt gemacht, er arbeitete für das ARD-Magazin „Kontraste“ und ist seit 1993 Redakteur beim Spiegel in Berlin. Das Buch „Schläge im Namen des Herrn“, das sich mit dem Heimkinder-Thema beschäftigt, machte 2006 Furore. 2012 erhielt Peter Wensierski das Bundesverdienstkreuz am Bande.

An diesen Ankerpunkten möchte Moderator Ihle seine Fragen anknüpfen, doch aus Peter Wensierski sprudelt es nur so heraus. Als ob er nie aus Heiligenhaus weg gewesen sei, erinnert er sich, wie er als Junge mit dem Roller (später mit dem Mofa) die Umgebung erkundete. „Ich bin an der Gerhart-Hauptmann-Straße groß geworden, eine Siedlung, die 1952 auf einem Kartoffelacker entstand.“ Er erzählt, wie er an einem Segelflugzeugwettbewerb teilnahm, kann sich an die Lebensmittelgeschäfte an der Gohrstraße („auf 70 Metern gab es vier“) entsinnen und daran, „wie viele tolle Spielplätze wir hatten“. Einer davon war die Müllkippe (Kiekert-Parkplatz): „Wir haben Spraydosen angezündet und man glaubt gar nicht, wie gut Müll brennt.“ Auch die Bunkeranlagen boten dem Heranwachsenden Gelegenheit zu Ausflügen.

Familienmitglieder, Freunde und Bekannte aus der Jugendzeit kamen ins Erzählcafé, um Peter Wensierski zu erleben.
Familienmitglieder, Freunde und Bekannte aus der Jugendzeit kamen ins Erzählcafé, um Peter Wensierski zu erleben. © Unbekannt | Unbekannt

„Im Haus der Kirche habe ich mit Klaus Kocks und Joe Brozio die Kellerdisco betrieben.“ Einmal die Woche legte das Trio Scheiben auf, „da kamen 100 Leute zwischen zwölf und 19“, schwärmt der Redakteur – und die Zuhörer schmunzeln.




Auch seine frühere Lehrerin Anne Langer lächelt. Ihr hat Wensierski extra ein paar alte Aufsatzhefte mitgebracht. Er schlägt eines auf, liest vor: „Ordnung 2 bis 3 steht da. Ein Aufsatz über einen Besuch in der Bayernstraße im Schwimmbad – mit Bild.“ Die Buntstiftzeichnung macht die Runde, ebenso die großen Fotos aus den 60er Jahren, die der Gast zur Geschichte der Siedlung aufgetrieben hat.

Gelegenheit für Ihle, nachzuhaken, ob er denn nach Berlin gegangen sei, um nicht zum Bund zu müssen. Wensierski: „Das war ein netter Nebeneffekt.“ Gejobbt hat er als Taxifahrer, doch Journalist zu werden, das trieb ihn an. Als sich keiner seiner Mitstudenten für den Osten erwärmen konnte, wurde er als jüngster westlicher Reisekorrespondent des epd in der DDR tätig. Er erinnert sich an Schlupflöcher bei den Grenzkontrollen, an die Opposition schon in den 80ern und an Honeckers Anwesen mit feudalem Kinoprojektor. Dort fand sich nach der Wende eine einsame Filmrolle – „es war ein Stripteasefilm“.

Erschütternde Briefe

Unter den Zuhörern befindet sich eine jener Frauen, die Wensierski für sein Buch „Schläge im Namen des Herrn“ interviewt hat: Elke Meister. Sie war als Kind mit ihrer Schwester Heiminsassin. „Wir haben über 40 Jahre nicht darüber geredet“, bestätigt sie seine Ausführungen.

Nach der Veröffentlichung eines Artikels über Heimkinder im Spiegel 2003 „brach die Lawine los“, sagt der Redakteur. „Ich erhielt erschütternde Briefe, manche zehn Zeilen, manche fünf Seiten lang.“ 2006 erschien das Buch, 2013 folgte die Verfilmung über die teils grausamen Zustände in Heimen. Von 1945 bis 1975 waren gut 800 000 bis über eine Million Mädchen und Jungen in Heimen untergebracht – mehr als die Hälfte der Einrichtungen waren in kirchlicher Trägerschaft, knapp 25 Prozent staatlich. „Das größte Unrecht, das man Kindern antun konnte. Für viele ist das Leben zerstört“, rekapituliert er.

Abenteuerliche Flucht aus der DDR

Zur Sprache kommt im VHS-Erzählcafé auch das neueste Buch des Spiegel-Autors: „Die verbotene Reise – die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht.“ Erscheinen wird es voraussichtlich im März 2014.

Wensierski erzählt die Geschichte zweier Studenten, Jens (Biologie, 23 Jahre) und Marie (Kunst, 24 Jahre), die sich 1987 aus Ost-Berlin aufmachen nach Russland. Eine heimliche Reise, die das Paar bis in die Mongolei und nach China führen wird. Dort wollen sie die westdeutsche Botschaft erreichen, um Pässe für die Einreise in die Bundesrepublik zu erhalten. Eine ungewöhnliche Flucht über 10 000 km zu Fuß, per Flugzeug, Zug und Auto.

Wensierski: „Ein Buch gerade für junge Menschen, die 25 Jahre nach dem Mauerfall eigentlich so gut wie nichts mehr über die DDR wissen.“ Der Spiegel-Autor hatte das Glück, beide Akteure, die sich nach 1989 aus den Augen verloren hatten, zu interviewen. „Jeder erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Das ist unglaublich spannend.“ Dazu gibt es zahlreiche ungewöhnliche Bilder: „3000 Fotos hat Jens geschossen, die lagerten alle in seiner Garage

Peter Wensierski hat noch viel mehr zu erzählen, zweieinhalb Stunden vergingen wie im Fluge. „Aber ich komme wieder“, verspricht er Ihle.