Hattingen. Nur knapp überleben zwei Brüder einen dramatischen Fahrrad-Unfall auf abschüssiger Straße. Den Jahrestag begehen sie gemeinsam - seit 35 Jahren.
Es war ein Wettrennen auf abschüssiger Straße. Da bremst der Neunjährige plötzlich. Sein zehnjähriger Bruder fährt auf. Eine Woche Koma. Neun Monate Reha. Aber er überlebt. Auch der Neunjährige wird schwer verletzt. Das war am 27. Juli 1989. Die tragische Sekunde hat die Familie zusammengeschweißt. Bis heute.
Für die WAZ-Redaktion Hattingen beginnt die Geschichte mit einer Mail. Sebastian Schreiner aus Niederbonsfeld bittet darum, im WAZ-Archiv nach einer Unfallmeldung zu suchen. Seiner Unfallmeldung. „Der tragische Vorfall ist jetzt 35 Jahre her“, schreibt er. „Und mein Bruder und ich haben den Bericht noch nicht gesehen. Gibt es ihn noch?“
Ja, es gibt ihn noch. „Zehnjähriger Hattinger schwebt in Lebensgefahr“ hat die Redaktion damals über die sechs Sätze aus dem Polizeibericht geschrieben. Und allein diese Darstellung lässt den Leser zusammenzucken. Letzter Satz: „Der tragische Unfall ereignete sich nur 50 Meter entfernt von dem Elternhaus der Kinder.“
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Für die WAZ stellt sich Sebastian Schreiner wieder auf die Tippelstraße. Die Stelle, an der es damals krachte, hat er jetzt nicht nur fürs Foto im Blick. Er schaut jeden Tag darauf. Den genau gegenüber hat er - mit Blick auf sein Elternhaus - ein eigenes Haus gekauft.
Das Wettrennen die steile Tippelstraße hinunter war sehr beliebt
Rückblende: „Wir waren mit dem Rad unterwegs - wie immer“, erinnert er sich an den Schicksalstag vor 35 Jahren. „Drei Freunde, mein Bruder Benjamin und ich. Das Wettrennen die steile Tippelstraße hinunter war sehr beliebt. Natürlich hatte damals keiner einen Schutzhelm auf. Am heutigen Winzermarkplatz sind wir gestartet. Und an unserem Elternhaus hatten wir sicher Tempo 60 drauf. Dann passierte es.“
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Ein paar Minuten vorher hat die Tante den Kindern noch hinterhergerufen: „Fahrt vorsichtig! Fahrt nicht so schnell!“ Doch es kommt anders. Die Vollbremsung des Bruders. Der Aufprall. Danach weiß Sebastian Schreiner nichts mehr.
Hört nicht, dass sein Bruder laut schreit vor Schmerzen. Sieht nicht, wie seine Mutter aus dem Haus zur Straße rennt. Sie ist im achten Monat schwanger. Der Zehnjährige bekommt auch nicht mit, dass die Notärzte ihn schon fast aufgegeben haben. „Den Kleinen krigen wir durch, den Großen wohl nicht“, sagt einer.
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Inzwischen ist auch der Vater am Unfallort. Er ist Arzt in Kupferdreh und erreicht, dass die Kinder nicht nach Bochum, sondern nach Essen ins Krankenhaus gebracht werden. Dort gibt es eine Neurochirurgie. Aber auch die sieht sich schnell überfordert und verlegt Sebastian in die Uni-Klinik.
Die Diagnose: Schädelbasisbruch, weitere Knochenbrüche am Kopf, Koma. Es sieht schlecht aus für Sebastian Schreiner. Doch er überlebt. Geht aus dem Akut-Krankenhaus für neun Monate direkt in eine Reha-Klinik für schwerstverletzte Kinder nach Bremen. Die in Holthausen gibt es noch nicht. Sie wird erst vier Jahre später eröffnet.
Sebastian Schreiner drängt es nun selbst in die Medizin
Sein Bruder Benjamin ist auch schwer verletzt. Aber viel schneller wieder fit. Der Unfall hat die beiden noch enger zusammenrücken lassen. Es gibt kein böses Wort. Nicht von dem, der gebremst hat. Nicht von dem, der aufgefahren ist. Und dann üben die beiden auch in der Grundschule Niederwenigern den Schulterschluss. Sebastian geht wegen des Lernrückstandes durch die Klinik-Aufenthalte eine Klasse zurück - in die des Bruders.
Der Vater Arzt, er selbst viele Jahre der Kindheit mit Pflegeberufen konfrontiert - Sebastian Schreiner drängt es nun selbst in die Medizin. Er wird Physiotherapeut.
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Heute ist der 45-jährige Niederbonsfelder verheiratet, hat drei Kinder (15, 13, elf Jahre alt). Und das Haus direkt gegenüber seines Elternhauses gekauft. In der nähren Umgebung wohnen 25 Familienangehörige. Und passen auf, wenn die Kinder mit dem Rad unterwegs sind. Alle tragen jetzt einen Helm. Das seien sie vom Reitunterricht gewöhnt. Und das gelte auch für Fahrradfahrten, sagen die Schreiners. Ehefrau Jenny (42) hat an den Unfall vor 35 Jahren genau diese Erinnerung: „Sebastian und ich kannten uns noch nicht. Aber im Wohnviertel wurde vom Tag des Unfalls an beim Radfahren ein Helm getragen. Alle Eltern bestanden darauf.“
Und der kleine Bruder? Lebt in München und ist promovierter Biologe. Trotz der Entfernung haben Sebastian und Benjamin Schreiner (44) einen kurzen Draht. „Wenn wir uns nicht sehen können, wird telefoniert. Gerne auch vier Stunden“, erzählt der Niederbonsfelder. Zuletzt sogar noch länger. Da haben sie über einen Zeitungsartikel gesprochen.