Hattingen. Klare Wort von der Leiterin der Frauenberatung für Hattingen und EN: Andrea Stolte spricht über Ursachen und neuen Formen von Gewalt an Frauen.

Das Frauenhaus für den EN-Kreis ist fast immer voll besetzt. Für Andrea Stolte eine erschreckende Situation, weil deswegen viele Frauen abgewiesen werden müssen. Und die Pandemie hat die Lage nicht besser gemacht – im Gegenteil, sagt die Leiterin der Frauenberatung Ennepe-Ruhr und Geschäftsführerin des Vereins „Frauen helfen Frauen/Gesine Intervention“.

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Können Sie kurz die Entwicklung der Frauenberatung skizzieren?

Andrea Stolte Das Frauenhaus für den Ennepe-Ruhr-Kreis mit Platz für 25 Personen wurde 1992 gegründet. Nach dem Frauenhaus folgte 1996 die Frauenberatungsstelle, die zuerst in Witten, danach in Schwelm, in Hattingen und seit 2021 auch in Herdecke vertreten ist. 2004 wurde das Gesine Netzwerk Gesundheit gegründet, das versucht, die Gesundheitsversorgung und Unterstützungseinrichtungen für Frauen zu verbinden.

Warum ist Vernetzung wichtig?

Wenn etwa eine Frau durch eine Gewalttat einen Zahn verloren hat, der Zahnarzt darauf aufmerksam wird und einen Kontakt zu uns herstellt, ist für die Frau viel gewonnen. Das gilt auch für die vertrauliche Spurensicherung. Nach einer Sexualstraftat müsste eine Frau eigentlich direkt zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Frauen, die aber genau das nicht wollen nach einem solch traumatischen Erlebnis, können wir stattdessen zur vertraulichen Spurensicherung in eines unserer Krankenhäuser schicken, wo die Spuren gesichert und in der Rechtsmedizin eingelagert werden. Zehn Jahre lang kann sich eine Frau danach noch überlegen, ob sie Anzeige erstatten will oder nicht.

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Gibt es einen weiteren Baustein im Gesamtkonzept?

Ja, das heißt TONI, was für Tatorientierte Nachhaltige Intervention steht. Das ist ein Angebot für gewaltaktive Menschen, vorwiegend Männer, aber auch Frauen, die von Gerichten verwiesen wurden. Wir haben hohen Zulauf von Männern, die zu uns kommen und sagen, dass sie sich etwa in bestimmten Situationen nicht mehr aufregen wollen, aber nicht wissen, wie sie sich in den Griff bekommen sollen.

Trotzdem können Sie als Ein­richtung das Problem nicht lösen...

Nein, Gewalt zu verhindern und Opfer zu schützen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Opfer sind Frauen ebenso wie Kinder und Männer. Eine weitere Zielgruppe sind übrigens Frauen mit Behinderung, weil die Gefährdung für sie ungleich höher ist. Es gibt kaum eine Frau mit Beeinträchtigung, die nicht in irgendeiner Form von Gewalt betroffen ist.

Zurück zu Corona und Ihrer Feststellung, dass Corona ein Gewalttreiber ist. Gibt es Zahlen?

Im Jahr 2020 sind wir von der Polizei über 212 Wegweisungen (auch Platzverweis, Anmerkung der Redaktion) im EN-Kreis informiert worden, in diesem Jahr waren es von Januar bis jetzt schon 250. Das ist ein deutlicher Anstieg. Das Thema Gewalt in Paarbeziehungen nimmt nicht ab. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass ein Teil der Gewalt in der Partnerschaft, ein großer Teil aber in Trennungssituationen passiert.

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Gibt es weitere Zahlen?

Die Statistik des Bundeskriminalamtes zeigt, dass es einen Anstieg bei den Femiziden gibt. Das bedeutet, dass jeden dritten Tag in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird, weil sie Frau ist. Und jeden Tag gibt es Versuche, dies zu tun.

Verändern sich auch die Formen von Gewalt?

Auf jeden Fall. Digitale Gewalt, Stalken oder das Verbreiten von Nacktfotos im Internet, all das hat absolut zugenommen. Auch das sogenannte Grooming, also Beziehungsanbahnungen unter falscher Identität. Davon sind viele junge Frauen betroffen.

Was unterscheidet denn einen Mann, dem in der Beziehung Gewalt angetan wird, von einer Frau?

Männer, die zu uns kommen, sind in der Regel in ihrer Beziehung gefangen, psychisch verstrickt. Die wenigsten Männer, die von Gewalt betroffen sind, haben extreme Angst vor ihrer Partnerin, auch wenn sie durchaus Verletzungen aufweisen können. Sie sind eher abhängig und haben große Angst vor einer Trennung. Wenn wir von der Polizei informiert werden und erfahren, dass eine Frau Täterin ist, nehmen wir genauso Kontakt zu dem Mann auf und beraten ihn.

Eine Übersicht der Hilfestellen

Unterstützung bei häuslicher und sexueller Gewalt für Frauen (und Männer) im Ennepe-Ruhr Kreis gibt es hier: Frauenhaus, 02339/ 62 92, bei der Frauenberatung EN (Bürgerzentrum Holschentor, Talstraße 8 in Hattingen) unter 02324/ 380 930 50 und beim Opferschutz der Polizei unter 02336/81 98 21 oder 0234/ 9 09 40 59. Infos gibt es auch im Internet unter www.gesine-intervention.deSeit Beginn der Pandemie hat die Frauenberatung eine Aufnahmewohnung eingerichtet, wo Frauen und ihre Kinder getestet werden, bevor sie im Frauenhaus aufgenommen werden.

Was sind eigentlich die Gründe für Gewaltausbrüche in Beziehungen?

Das ist oftmals Überforderung. Viele Männer sind keine Kriminellen, die schlagen weder ihren Nachbarn noch ihren Arbeitskollegen. Die meisten Frauen, die wir beraten, leben nicht mit Schwerkriminellen, sondern mit Männern, die für sich das Recht fühlen, Gewalt auszuüben. Es hat auch damit zu tun, dass mehr Männer ein höheres Einkommen haben, ein größeres Vermögen und zugleich weniger versorgende Arbeit leisten. Mit anderen Worten: Männer haben mehr Macht und Einfluss als Frauen. Wir leben immer noch in einem Patriarchat.

Gibt es Zukunftspläne?

Ja, wir haben eine Vision. Frauenhaus und Beratung sollen zusammenrücken. Beides soll raus aus der Ecke der Anonymität und hinein in die Mitte der Gesellschaft. Die Anonymität hat Nachteile, etwa dass Kinder keine Freunde empfangen können oder Frauen von ihren Freundinnen dort nicht unterstützt werden können. Wir brauchen keine Isolation, sondern Schutz und Sicherheit, ohne dass die Betroffenen sich verstecken müssen. Das ist eine große Herausforderung. Aber wir wollen nicht weiter so tun, als wäre es ein Randphänomen. Wenn wir mitten in der Stadt sind, dann ist auch die Unterstützung besser.

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