Gladbeck..
Er schaut seinem Gegenüber in die Augen und sieht – absolut nichts. Kein bisschen Farbe, kein noch so winziger Lichtblick, nicht einmal Umrisse geben der ständigen Dunkelheit Konturen, die Marvin Kamrath umgibt. „Ich nehme nur die Stimme wahr“, sagt er. Die Welt des 64-Jährigen ist zwar stockfinster, aber er versinkt dennoch nicht in Düsternis. Menschen, Begegnungen und Eindrücke, die er nicht über seine Augen wahrnimmt, bringen Farbe ins Leben des Rentners.
Er erblindete mit etwa 23 Jahren vollständig, ins stille Kämmerlein zurückgezogen hat er sich nie. Und davor rät der Gladbecker auch den Menschen ab, die zu den Treffen des Blinden- und Sehbehindertenvereins Gladbeck/Dorsten kommen: „Es bringt nichts, sich in die Ecke zu setzen und zu heulen!“ Sein Lichtblick: „Es ist wichtig, unter Leute zu kommen!“ Das empfiehlt der ausgebildete Telefonist und Stenotypist, der unter anderem in der hiesigen Stadtverwaltung arbeitete, auch anderen Erblindeten oder stark Sehbehindeten.
Über sich selbst sagt er: „Ich bin immer lebenslustig und froh gewesen.“ Dabei hatte er gewiss oft genug Grund, mit seinem Schicksal zu hadern. Kamrath erzählt: „Ich war von Geburt an stark sehbehindert.“ Mit Anfang 20 konnte der junge Mann beim Kartenspielen Pik und Herz nicht mehr auseinanderhalten. Eine Netzhaut-Degeneration sei die Ursache für seine Erblindung.
Er besuchte die Richard-Hessberg-Schule für Sehbehinderte – „zwangsläufig“, wie er sagt. Eine andere Möglichkeit gab’s eben für ihn seinerzeit nicht. Und auch die Blindenschule in Paderborn war alternativlos. Realschulabschluss, Berufsausbildung, Arbeitsplatz – ein Werdegang wie ihn andere, nicht erblindete Menschen, auch gehen. Und wer Kamrath aus seinem Leben locker plaudern hört, könnte bisweilen für einen Wimpernschlag lang vergessen, dass Farben sowie das Aussehen von Menschen, Umgebung und Gegenständen für den Gladbecker Erinnerungen sind.
Greifbar sind die vielen, kleinen Besonderheiten, die seinen Alltag doch von dem Sehender unterscheiden. Behutsam streifen Kamraths Fingerkuppen über die Anordnung von Hüppelchen auf dem Papier – Blindenschrift, für ihn unerlässlich. Ebenso der Computer mit Spracherkennung oder seine Armbanduhr mit Zeigern, die er ertasten kann. Seine Finger sind quasi seine Augen. Flott steigt Kamrath die Treppen von der Wohnung hinunter vor das Haus an der Ortelsburger Straße. Sein Stock – er bevorzugt ein zusammenklappbares Modell – klopft sachte den Boden ab, weist ihm den Weg. Kommt er von seiner gewohnten Strecke ab, bittet er seine sehende Begleitung um Hilfe. Unterstützung bietet Kamrath im Verein Blinden und Sehbehinderten an: praktische Tipps, Behördengänge oder einfach mal ein Pläuschchen.