Gelsenkirchen. An der Sekundarschule Hassel läuft ein bundesweit einzigartiges Projekt. Es könnte Gelsenkirchen zum großen Vorbild machen.

Es ist ein massives Problem in und für Gelsenkirchen: Zu viele junge Menschen in dieser Stadt brechen die Schule, ihre Ausbildung ab, sind arbeitslos, haben teils wenig Aussicht auf eine gute berufliche Zukunft. Die Jahresbilanz von 2023 der lokalen Agentur für Arbeit zeigt, dass die Jugendarbeitslosigkeit von 2022 zu 2023 um 8,1 Prozent gestiegen ist. Was den Jugendlichen zumeist fehlt, ist eine Perspektive. Genau hier setzt nun ein Projekt an der Sekundarschule Hassel an, das einen neuen Standard in der frühen Berufsorientierung setzen soll. „Junge Visionäre – Deine Zukunft beginnt jetzt“ ist erst im vergangenen Dezember mit der damaligen Klasse 5b an den Start gegangen, die Verantwortlichen sind schon jetzt vom Erfolg überzeugt. Und auch davon, dass diese innovative Idee weiteren Zuspruch findet – nicht nur in der Emscherstadt, sondern auch in NRW, sogar bundesweit.

Gelsenkirchens perspektivlose Jugendliche: Bringt dieses Projekt die Lösung der Probleme?

Dieser Gedanke steckt hinter den „Jungen Visionären“: Während die Vorbereitung auf den Beruf in den meisten Schulen erst ab der achten Klasse beginnt, werden die insgesamt 28 Kinder der heutigen 6b schon jetzt auf sanfte Weise in Richtung Zukunft geführt. Der Ansatz: Ihnen schon in jungen Jahren die Möglichkeit zu geben, spielerisch und altersgerecht die eigenen Talente und Stärken zu erkennen. Im Rahmen von kleineren Projekten, von Arbeitsgruppen oder beispielsweise auch bei Besuchen im hiesigen Kunstmuseum oder der DASA Arbeitswelt-Ausstellung in Dortmund können sie ganz praxisnah für sich entdecken: Was kann ich? Was macht mir Spaß? Wo liegen meine Talente?

Unter anderem diese Lampen sind im Rahmen des Projekts „Junge Visionäre“, das derzeit an der Sekundarschule Hassel läuft, entstanden.
Unter anderem diese Lampen sind im Rahmen des Projekts „Junge Visionäre“, das derzeit an der Sekundarschule Hassel läuft, entstanden. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Wir haben handwerklich und kreativ gearbeitet, das hat ziemlich viel Spaß gemacht“, berichtet etwa der zwölfjährige Bilind während des offiziellen Pressetermins und präsentiert stolz die geschaffenen Werke. Es sind wirklich hübsche Lampen, die die 5b da gemacht hat, mit Schirmen aus Holz, ganz nachhaltig und sorgfältig verarbeitet. Was Bilind später einmal beruflich machen möchte? Nun, entweder will er als Arzt oder Fußballspieler tätig sein, da ist er ganz klar in seiner Vorstellung. Sein Freund Emir möchte Polizist werden. „Man schaut in die Zukunft und in Erwachsenenwelten, das macht Spaß und ist nützlich für später“, sagt der Zwölfjährige und klingt dabei ganz schön reif.

Lara Sofie und Joyce zeigen am anderen Ende der Mensa, dort, wo sie heute ihre ersten Projekt-Ergebnisse präsentieren, was sie alles so aus altem Schlauchboot-Stoff und anderen Materialien hergestellt haben. Upcycling ist hier das Stichwort, denn darum geht es ja auch: Dass den Kindern Nachhaltigkeit vermittelt wird, und ein bewusster Umgang mit Ressourcen. Die beiden Mädchen wissen ebenfalls, wo sie ihr beruflicher Weg einmal hinführen wird: „Seit ich sechs Jahre alt bin, möchte ich Rettungssanitäterin werden“, sagt die elf Jahre alte Lara Sofie. Und über ihren Berufswunsch Forensikerin sagt die elfjährige Joyce: „Man darf keine schwachen Nerven haben.“

40.000 junge Menschen in NRW suchen sich aus gerade einmal zehn Berufen einen aus

Dass die vier Kinder der 6b schon so klare und vor allem besondere Vorstellungen haben, ist freilich nicht selbstverständlich. Einen Blick auf NRW wirft der Chef der nordrhein-westfälischen Arbeitsagenturen, Roland Schüßler – die Zahl lässt aufhorchen: Knapp 40.000 junge Menschen würden sich aus gerade einmal zehn Berufen einen aussuchen, „das machen sie seit 40 Jahren, das ist wie in Stein gemeißelt“, so Schüßler. Dabei müsse das doch gar nicht sein, bei der doch recht großen Auswahl von hunderten Berufen, aus denen die Kinder und Jugendlichen wählen können. Schüßler meint: „Wir müssen Berufsorientierung neu denken.“

Und genau da setzt ja auch das Projekt der „Jungen Visionäre“ an, bei einer früheren Orientierung. Bis zum Ende der siebten Klasse sollen die Schülerinnen und Schüler in einem kontinuierlichen Prozess ihre Stärken und auch ihre Bedürfnisse kennenlernen. Dass die Sekundarschule Hassel mit den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen an dem Pilotprojekt teilnimmt, war relativ schnell ausgemacht. Klassenlehrerin Christina Stumpf formuliert es so: „Der Bedarf ist hoch, der Bedarf ist da.“

Die Kinder stark machen und ihnen Perspektiven aufzeigen: Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6b lernen schon früh, sich beruflich zu orientieren.
Die Kinder stark machen und ihnen Perspektiven aufzeigen: Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6b lernen schon früh, sich beruflich zu orientieren. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Es gibt bei so vielen Kindern so viel Potenzial“, betont auch Stadträtin Andrea Henze. „Wir sind stolz und dankbar, die Initiative Junge Visionäre in Gelsenkirchen zu haben – ein einzigartiges Projekt in Deutschland, das unserer Stadt neue Perspektive eröffnet“, so Henze weiter. Und auch Michael Grütering, Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe ist überzeugt, „dass wir in dieser Stadt tolle Kinder haben, die wir nur abholen müssen.“

Und, dass schon sehr früh, nicht erst ab der 8. Klasse, sondern ab Klasse 5, am besten aber noch in der Grundschule. „Berufsbilder entwickeln sich sehr früh“, sagte Michael Grütering bereits im Februar 2023. Man müsse die gezielte Orientierung deshalb mindestens ab Klasse fünf systematisch angehen. So könne der Anteil der perspektivlosen Jugendlichen gezielt verringert und „das Nachwachsen der Langzeitarbeitslosigkeit verhindert“ werden, betonte er. „Wir können wirklich nachhaltig etwas bewirken, wenn wir früh ansetzen.“ Und das nicht nur einmalig in Hassel, sondern wünschenswerter Weise in der gesamten Stadt, in NRW und im Bund.

Träger der Initiative sind die Stadt Gelsenkirchen, die Agentur für Arbeit Gelsenkirchen und der Arbeitgeberverband „Gelsenkirchen Metall“. Umgesetzt wird das Projekt von der Gelsenkirchener Stiftung „Pro Ausbildung“.