Gelsenkirchen. Auch Selbstständige können Anspruch auf Bürgergeld haben. Wenige verdienen viel Geld. Woran das liegt und was in Gelsenkirchen auffällt.
Auch Selbstständige haben Anspruch auf Bürgergeld, wenn sie ihre Existenz nicht mit ihren Einkommen sichern können. Das traf 2023 in Gelsenkirchen auf 407 Menschen zu. So zeigt es eine seitens der Bundesregierung beantwortete Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion. Die Rechtsaußen-Fraktion wollte Fakten zu Leistungsberechtigten in Selbstständigkeit bekommen und fragte explizit nach den Zahlen aus Gelsenkirchen, Bremerhaven und Berlin-Neukölln, wo die Arbeitslosigkeit jeweils besonders hoch ist.
Unter den knapp 52.000 Bürgergeld-Empfängern, die es 2023 in der Emscherstadt gab, haben also nur knapp 0,8 Prozent der Menschen trotz Leistungserhalt weiter selbstständig gearbeitet. Berücksichtigt man nur die Bürgergeld-Empfänger, die arbeiten könnten (35.300), sind es knapp 1,25 Prozent. Auffällig dabei ist die Dauer der Hilfsbedürftigkeit: Der Großteil der selbstständig arbeitenden Bürgergeld-Empfänger in Gelsenkirchen (knapp 52 Prozent) ist demnach bereits seit mehr als vier Jahren im Leistungsbezug.
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Zwar heißt das nicht unbedingt, dass diese Gruppe in all diesen Jahren auch aktiv selbstständig war. Aber doch springt der Zusammenhang zwischen lange Leistungsbezug und Selbstständigkeit ins Auge. Und das, obwohl die Bundesregierung eigentlich betont, dass Bürgergeld-Beziehern die Beendigung ihrer Selbstständigkeit zuzumuten ist, falls durch die Aufnahme einer anderen Arbeit die Hilfsbedürftigkeit beendet oder zumindest verringert werden kann.
Wenn die Selbstständigkeit auf Eis liegt
Auf Nachfrage klärt Gelsenkirchens Jobcenter-Chefin Anke Schürmann-Rupp auf: Die Selbstständigkeit stehe in vielen Fällen eher am Ende eines Prozesses, bei dem die Vermittlung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch nicht gelungen ist. „Häufig entscheiden sich Personen, die bereits seit einer längeren Zeit im Leistungsbezug sind, nach intensiver Beratung, Abwägung der Chancen und Risiken sowie notwendiger eigener Recherchen und Vorbereitungen dazu, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen“, sagt sie.
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In anderen Fällen liegt die Selbstständigkeit einfach auf Eis: „Es ist aber auch möglich, dass sie aufgrund der Lebensumstände der Leistungsberechtigten, wenn sie alleinerziehend sind oder Angehörige betreuen, nur ein begrenztes Zeitfenster zur Ausübung ihrer Arbeit zur Verfügung haben und Ihnen die Ausweitung ihrer Selbstständigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich ist“, ergänzt die Jobcenter-Chefin. Die Ursachen für die Selbstständigkeit im langen Leistungsbezug seien also vielfältig und könnten nicht pauschalisiert werden.
Hohes Einkommen trotz Bürgergeld: Was dahinter steckt
Eine weitere Auffälligkeit bei den Zahlen ist das teils hohe Einkommen durch Selbstständigkeit, das neben dem Bürgergeld erzielt wird. Die größte Gruppe der Unternehmer verdient zwar nur unter 200 Euro zusätzlich im Monat, allerdings gibt es gerade in Gelsenkirchen auch Bürgergeld-Empfänger, die über 850 Euro im Monat durch die Selbstständigkeit verdienen. Sogar kommt es vor, dass Leistungsbezieher über 1400 Euro verdienen. Dabei geht es in Gelsenkirchen um weniger als zehn Fälle.
Aber wie geht das überhaupt – so ein recht hohes Einkommen erwirtschaften und gleichzeitig berechtigt sein, Bürgergeld zu erhalten? Schürmann-Rupp macht darauf aufmerksam, dass das mit der Größe einer Bedarfsgemeinschaft zusammenhängt. Gerade in Gelsenkirchen gibt es viele Bedarfsgemeinschaften mit Kindern. Eine Alleinerziehende mit drei Kindern zum Beispiel hat einen Mehrbedarf von 36 Prozent der Regelleistung. Wie viel die Haushalte am Ende wirklich von dem Einkommen behalten dürfen, wird aber natürlich noch errechnet, indem Bedarf und Einkommen gegenübergestellt werden. Ganz einkassiert wird das Einkommen aufgrund des Freibetrags jedoch nie. Das gilt für Einkommen aus Selbstständigkeit wie auch für jedes andere Einkommen.
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Wie anfällig das System für Missbrauch ist? Letztendlich könne kein System hundertprozentig vor krimineller Energie geschützt werden, sagt Schürmann-Rupp hierzu. Missbrauch würde etwa dann vorliegen, wenn man versuchen würde, Ausgaben abzusetzen, die überhaupt keine Betriebsausgaben sind. Hier versuche man vorzubeugen, etwa „durch intensive Prüfungen, mitunter auch durch unseren Ermittlungsdienst“ sowie „durch gute Beratung und den Verweis auf mögliche Rechtsfolgen.“ Konkrete Daten zum Leistungsmissbrauch durch Selbstständige werden im Jobcenter nicht erhoben. Schürmann-Rupp verweist jedoch darauf, dass es im Jobcenter ein eigenes Team gibt, dass sich nur mit dem Thema Selbstständigkeit befasst.
Selbstständige im Bürgergeld: Die Entwicklung in Gelsenkirchen
Die vom Bund aufbereiteten Zahlen ermöglichen einen 16-Jahres-Vergleich. Demnach war die Zahl der selbstständig erwerbstätigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, wie es im Fachterminus heißt, im Jahr 2007 in Gelsenkirchen besonders niedrig (287) und im Jahr 2015 besonders hoch (658). Seitdem ist die Zahl wieder fast kontinuierlich gesunken.
„Die Neigung zur beruflichen Selbstständigkeit ist aktuell rückläufig, da die Geschäftsrisiken weiter zunehmen“, sagt Anke Schürmann-Rupp zu dieser Entwicklung und nennt Hauptfaktoren wie die derzeit schlechte Konjunktur, die hohen Energiepreise nach dem russischen Angriffskrieg, bürokratische Hürden oder Kapitalmangel in großen Teilen der Bevölkerung. „Auch wird der Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu der Entwicklung beigetragen haben.“