Gelsenkirchen. Die Ampel plant das sogenannte „SGB-3-Modernisierungsgesetz“. Aus Gelsenkirchener Sicht kommt es damit wieder nur zu Verschlimmbesserungen.
Andrea Henze hat ein Déjà-vu. Ein gutes Jahr ist es her, dass sich Gelsenkirchens Sozialdezernentin, soziale Träger, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammen getan haben, um massiv gegen einen Gesetzesentwurf der Ampel-Regierung zu protestieren. Die Förderung von jungen Arbeitslosen sollte künftig bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt werden – und nicht mehr beim Jobcenter. Von „katastrophalen Folgen“ für junge Menschen war die Rede, von einer „Reform ohne Not“. Der Protest fruchtete, tatsächlich wurde das Gesetzgebungsverfahren gestoppt. Aber nun macht es den Anschein, als würde die Ampel in Teilen einen neuen Versuch wagen. Und Henze wundert sich, warum der große Protest bis jetzt ausbleibt: „Mit einem neuen Gesetz soll erneut ein System zerschlagen werden, das eigentlich gut funktioniert, gerade in Gelsenkirchen“, sagt sie.
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Das Gesetz, das die Sozial- und derzeit auch Jugenddezernentin in Vertretung meint, nennt sich das „SGB-III-Modernisierungsgesetz“. Vereinfacht gesagt ist im dritten Sozialgesetzbuch alles festgehalten, was die Arbeitslosenversicherung und damit die Bundesagentur für Arbeit betrifft. Im zweiten Sozialgesetzbuch dagegen geht es ums Bürgergeld und Jobcenter. Das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium plant erneut, Aufgaben vom Jobcenter zur Arbeitsagentur zu verlagern. Und wieder geht es dabei um die Arbeitsförderung von jungen Menschen.
Ampel-Regierung will „Arbeitsförderung modernisieren“
Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung klingt das sehr positiv. Man wolle den „Sozialstaat stärker an der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger ausrichten“, man wolle die „Arbeitsförderung modernisieren“, sie „bürgerfreundlicher, transparenter, effizienter und unbürokratischer“ gestalten und so der Entwicklung Rechnung tragen, dass die Zahl der jungen Menschen unter 35 Jahren ohne Berufsabschluss zuletzt auf 2,86 Millionen Menschen gestiegen ist. Zum Beispiel sollen deshalb Möglichkeiten der Videotelefonie bei Vermittlungsgesprächen erweitert werden, man möchte das Nachholen von Hauptschulabschlüssen vereinfachen und eben auch „Leistungen des SGB II, die sich bei der Integration junger Menschen mit einer Vielzahl an Unterstützungsbedarfen bewährt haben, auch im System des SGB III einführen“.
Kritisch sehen das aber insbesondere diejenigen, die von der Perspektive einer Stadtverwaltung auf die Reform blicken. So wie Andrea Henze. „Ich fühle mich wirklich zurückversetzt in die Zeit, als versucht wurde, die Arbeitsförderung von jungen Menschen neu zu regeln.“ Denn auch das neue Gesetz sei nicht weniger als ein „Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung“. Schließlich, so Henze, sei das Jobcenter viel mehr an die Stadt angebunden, sei viel präsenter mit Vor-Ort-Angeboten. „Die Bundesagentur müsste solche Angebote erst schaffen. Und das kostet Zeit.“ Zeit, die man angesichts der weiterhin extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit in Gelsenkirchen einfach nicht habe.
Außerdem werde die sogenannte „Betreuung aus einer Hand“ aufgegeben. Sinnvoll sei ja aktuell, dass diejenige Behörde für die Arbeitsförderung zuständig ist, die eben auch die Informationen über die Bedarfsgemeinschaft und die Lebensumstände von Bürgergeld-Empfängern hat, also das Jobcenter. Warum, fragt Henze, wolle man dafür sorgen, dass arbeitslose junge Menschen künftig auch noch zu einer anderen Behörde laufen müssten?
Deutscher Städtetag sieht Gesetzesreform der Ampel kritisch
Das sieht auch der Deutsche Städtetag ähnlich. „Die gesetzlichen Änderungen hinsichtlich junger (schwer erreichbarer) Menschen lesen sich wie ein zweiter Anlauf zur Verlagerung der Zuständigkeit von U25-jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus dem SGB II in den SGB III Bereich“, heißt es in einer Stellungnahme zu dem Gesetzesentwurf. Es sei nicht nachvollziehbar, warum sich nun die Bundesagentur um diese Klientel kümmern sollte. Statt bei der Agentur neue bundeseinheitliche (Doppel-)Strukturen aufzubauen, sollten viel eher die Jugendhilfe, die Sozialämter und die Jobcenter besser ausgestattet werden, die diese Aufgabe bereits verantworten.
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Wie, das fragt der Städtetag, sollten alle Probleme im Lebensumfeld einer betreuenden Person in den Blick genommen werden, wenn gar nicht genug Informationen über den jungen Menschen vorliegen? Damit zielt der kommunale Spitzenverband auch auf die Tatsache, dass ja das Jobcenter und nicht die Berufsagentur alle Infos zu einem Bürgergeld-Empfänger vorliegen hat.
Und dann ist da noch die Frage des Geldes. Der U25-Reformversuch im vergangenen Jahr hatte auch einen haushälterischen Hintergrund. Die Staatskasse sollte um rund 800 Millionen Euro entlastet werden, indem die Arbeitsförderung der jungen Menschen künftig über die Arbeitslosenversicherungsbeiträge finanziert wird. Michael Grütering, Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe, bezeichnete das als „Taschenspielertrick“ und Verschiebung zulasten der Unternehmen und Beschäftigten. Die neue Reform soll auf Kosten der Versicherungsleistung auch satte 100 Millionen Euro bei der Einführung kosten, danach werden Erfüllungsaufwände für die Bundesagentur in Höhe von 52 Millionen Euro angegeben. Geld, das ebenfalls nicht aus dem Haushalt bezahlt wird, sondern von den Beitragszahlern kommen müsste.