Gelsenkirchen. Die Entwicklung der Kinder- und Jugendgewalt in Gelsenkirchen ist erschreckend. Eine Expertenrunde hat sich auf die Suche nach Ursachen gemacht.

14. Oktober, räuberische Erpressung in der Bahn in Buer, die Täter: 14 Jahre alt. 2. Oktober, Elfjähriger wird bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, der Täter: zwölf Jahre alt. 12. September, erneut räuberische Erpressung, dieses Mal in Ückendorf, die Täter: zwischen 13 und 15 Jahre alt. Derartige Meldungen mögen im Vergleich zu 2023 etwas nachgelassen haben, aber doch muss sie die Polizei Gelsenkirchen weiterhin regelmäßig fertigen. Die explodierende Jugend- und speziell die Kindergewalt ist seit dem vergangenen Jahr ein erschreckendes Phänomen, vor allem in Gelsenkirchen.

Ein Phänomen jedoch, bei dem die Erwachsenen aus Sicht der Soziologin Stephanie Moldenhauer zu oft außen vor gelassen werden. „Es ist nicht so, dass die Kinder denken, dass es eine coole Sache ist, auf Raubzüge zu gehen“, sagte sie jetzt auf einer Podiumsdiskussion zum Thema Kinderkriminalität im Emmaus-Gemeindesaal. „Erwachsene lösen heutzutage wieder zunehmend Konflikte über Gewalt. Da haben wir einen massiven Anstieg - und das übernehmen Kinder“, so die Bielefelderin.

Polizeipräsident Frommeyer: „Was richtig reinschlägt, das sind die Raubdelikte“

Bevor Moldenhauer zu der Ursachenforschung weiter in die Tiefe gehen konnte, präsentierte Polizeipräsident Tim Frommeyer, den die Gelsenkirchener Grünen für die Diskussion mit dem Titel „Was tun, wenn Kinder straffällig werden?“ gewinnen konnten, noch einmal die Zahlen aus 2023 zu den Tatverdächtigen in der Stadt.

Was tun, wenn Kinder straffällig werden? Polizeipräsident Tim Frommeyer präsentierte bei einer Veranstaltung der Grünen die aktuellsten Zahlen zur Kinder- und Jugendkriminalität in Gelsenkirchen.
Was tun, wenn Kinder straffällig werden? Polizeipräsident Tim Frommeyer präsentierte bei einer Veranstaltung der Grünen die aktuellsten Zahlen zur Kinder- und Jugendkriminalität in Gelsenkirchen. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Was uns in Gelsenkirchen deutlich unterscheidet zur Polizeilichen Kriminalstatistik des Landes NRW, das ist die Steigerung im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität. Während wir hier im NRW-Schnitt von sechs bis sieben Prozent ausgehen, sind wir in Gelsenkirchen bei 16 Prozent und nur bei den Kindern bei 30 Prozent“, so Frommeyer, der als einen Grund für die Tatverdächtigen-Zahlen jedoch auch die starken Kontrollen am Heinrich-König-Platz nannte, wo bereits 2022 die 20-köpfige Ermittlungskommission „König“ eingesetzt wurde. „Da hatten wir einen absoluten Schwerpunkt.“

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Insgesamt sei jedoch zu erkennen gewesen: „Hier geht es nicht um die einfache Körperverletzung, hier geht es um Delikte mit einer enormen Qualität“, betonte der Polizeipräsident und ergänzte: „Was richtig reinschlägt, das sind die Raubdelikte.“ Hier sei 2023 bei Kindern und Jugendlichen eine Steigerung von 160 Prozent (!) zu verzeichnen. Deshalb habe man kurz nach Veröffentlichung der Kriminalstatistik auch die Sonderkommission (Soko) „Jugend“ ins Leben gerufen.

Wissenschaftlerin plädiert dafür, ehemalige Gewalttäter viel mehr einzubinden

An großen kriminologischen Studien zu diesem Verhalten fehle es, sagte Stephanie Moldenhauer, die beim „Institut für soziale Arbeit e.V.“ in Münster beschäftigt ist. Es gebe in Deutschland eher „punktuelle Erkenntnisse.“ Anhand dieser lasse sich jedoch eine Verschiebung zur Gewalteinstellung erkennen. Früher sei es so gewesen, dass Gewalt nur dann ausgeübt wurde, wenn man sie als notwendig erachtet hat, „wenn man keinen anderen Ausweg gefunden hat.“ Seltener sei eine „Macht- und Dominanzeinstellung“ zu Gewalt gewesen, dass also Gewalt vermehrt ausgeübt wurde, um sich als der Stärkere zu präsentieren. Hier finde jedoch ein Wandel statt, so Moldenhauer. „Gewalt als Machtdominanz ist wieder eine echte Handlungsalternative geworden.“

İlayda Bostancıeri, Landtagsabgeordnete der Grünen, plädiert beim Thema Kinder- und Jugendkriminalität für mehr Prävention.
İlayda Bostancıeri, Landtagsabgeordnete der Grünen, plädiert beim Thema Kinder- und Jugendkriminalität für mehr Prävention. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Soziale Medien und Medienkonsum würden bei dieser Entwicklung auch eine Rolle spielen, jedoch nicht in dem Sinne, wie es Erwachsene oft vermuten würden. „Wir haben seit Jahrzehnten Studien zu Computerspielen und Gewaltdarstellungen im Netz, die haben fast überhaupt keinen Einfluss. Kinder können sehr gut unterscheiden, zwischen Realität und Fiktion. Was sie aber sehen, das ist, wie andere in der Realität Konflikte lösen“, sagte die Kriminalitätsexpertin - und zielte unter anderem auf Videos aus Kriegs- und Krisengebieten, die im Sekundentakt auf Tiktok-Nutzer einprasseln. Hinzu mische sich, dass jungen Männern weiterhin Stärke und Dominanz als erstrebenswert anerzogen werde. „Das sind Wertorientierungen, die wir heutzutage immer noch belohnen.“ . 

Zudem plädierte Moldenhauer mit Blick auf die Erkenntnisse aus der Wissenschaft dafür, „ehemalige Täter als Multiplikatoren zu gewinnen“. Interessanterweise sei es so, dass die Jugendlichen, die schon einmal massiv Gewalt angewendet haben, am ehesten auch wüssten, wie sie in Konfliktsituation Gewalt vermeiden. Deswegen müsste man ehemalige Gewalttäter viel mehr in Schulungs- und Präventivformaten einbinden.

Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stand nach Veröffentlichung der jüngsten Polizeistatistik das Thema ausländische Tatverdächtige - nicht zuletzt, da NRW-Innenminister Herbert Reul es selbst entsprechend in den Mittelpunkt stellte („Wir müssen über Ausländerkriminalität sprechen.“) Polizeipräsident Tim Frommeyer verriet, Reul habe damals lange darüber nachgedacht, ob er das Thema so offensiv spielen solle. „Ich war jemand, der ihm gesagt hat: Ja, wir sollten das tun“, erzählte Frommeyer. Es sei wichtig, das Thema anzusprechen, um es auch konstruktiv und sachlich beleuchten zu können.

Intensität der Taten wächst: „Aus einer Kleinigkeit heraus ist fast jemand gestorben“

İlayda Bostancıeri, Landtagsabgeordnete von den Grünen aus Gelsenkirchen, betonte jedoch, dass die Debatten zur sogenannten Ausländerkriminalität oft sehr verkürzt seien. „Es geht dann oft um den bösen migrantischen Jugendlichen“, sagte sie. Man dürfe dabei aber Faktoren wie Armut oder einen geringen Bildungsstand, „die Überschneidungen mit migrantischen Communities haben“, nicht außer Acht lassen. Zudem sei das derzeitige gesellschaftliche Klima nicht förderlich: „Die Frage ist doch: Fühlen sich Menschen hier willkommen und angenommen?“ Zudem plädierte Bostancıeri, dafür, mehr auf Prävention statt Repression bei dem Thema Jugendgewalt zu setzen.

Erkan Öztürk von der Katholischen Jugendsozialarbeit Gelsenkirchen in seinem Revier - dem „Ücky“ an der Bochumer Straße.
Erkan Öztürk von der Katholischen Jugendsozialarbeit Gelsenkirchen in seinem Revier - dem „Ücky“ an der Bochumer Straße. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Die Expertenrolle für das Thema Prävention nahm an dem Talk-Abend in der Altstadt Erkan Öztürk, Streetworker bei der Katholischen Jugendsozialarbeit, ein. Auch er berichtete, dass die Intensität der Straftaten heftiger geworden sei. „Es kommen Jugendliche zu mir, die sagen: Aus einer Kleinigkeit heraus ist jemand fast gestorben. Und dann werden die Stiche am Körper gezeigt.“ Mit solchen Jugendlichen zu arbeiten, sei keine leichte Arbeit. Entsprechend gehe es bei der Arbeit in Jugendeinrichtungen wie dem „Ücky“ an der Bochumer Straße nicht nur „um ein bisschen Tischtennisspielen.“ Man versuche, beispielsweise durch Anti-Aggressionstrainings, Kickboxen oder Aufnahme von Rap-Songs, „aus den Schwächen der Jugendlichen das Beste herauszuholen und daraus etwas Konstruktives zu machen.“

Dieser Aspekt, da waren sich am Ende alle Podiumsteilnehmer einig, könne bei der Arbeit in Gelsenkirchen, eine noch größere Rolle spielen.