Mülheim/Duisburg/Gelsenkirchen. „Die Absurdität des Status Quo“ wollte der bekannte Migrationsexperte Gerald Knaus in Mülheim zeigen. Geschafft hat er das – mit dieser Rechnung.
Als diese Rechnung aufgestellt wurde, da mussten manch einer im Saal leicht verzweifelt auflachen. Aber der aus Talkshows und dem Politbetrieb bekannte Migrationsforscher Gerald Knaus wollte für die Gäste der Akademie „Die Wolfsburg“ in Speldorf eben mal die „Absurdität des Status Quo“ im Hinblick auf das EU-Migrationssystem auf den Punkt bringen. Zugeschaltet aus Berlin, stellte der Buchautor und Architekt hinter dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen von 2016 anhand von Zahlen dar, wie sehr die deutsche Verwaltung im Hinblick auf die Dublin-Regelungen überlastet ist – am Ende aber quasi nichts von der ganzen Arbeit hat.
Dublin besagt, dass das Land für einen Asylbewerber zuständig ist, das die Person zuerst betreten hat. Wird im Asylverfahren festgestellt, dass ein anderer Staat zuständig ist, kann ein Antrag auf eine Überstellung gestellt werden. Deutschland hat im letzten Jahr 75.000 Anträge für Dublin-Überstellungen gestellt, wie Knaus darlegte. Tatsächlich durchgeführt wurden am Ende aber nur 5000 Überstellungen.
Dublin-Verordnung: Diese Zahlen sind für Deutschland bitter
Gleichzeitig bearbeitete Deutschland 15.000 Anfragen anderer Länder, Asylbewerber im Rahmen von Dublin zu übernehmen. „Am Ende kam es zu 4300 Übernahmen“, so der Österreicher. „Das heißt: Deutschlands Ausländerbehörden hatten im letzten Jahr 90.000 Dublin-Verfahren für einzelne Personen, die monatelang nicht integriert werden konnten, die irgendwo gewartet haben. Und am Ende kam eine Entlastung für Deutschland von weniger als 700 Anträgen dabei heraus.“ Mickrig wirkt diese Zahl, wenn man sie mit den Asylanträgen vergleicht, die 2023 insgesamt in Deutschland gestellt wurden (rund 352.000 Personen). Das Dublin-System habe Deutschland also fast nicht entlastet, sagte Knaus. „Diese Art von Politik überfordert Verwaltungen und bringt am Ende überhaupt keinen Nutzen.“
Absurd erscheinen ließ Knaus in Mülheim auch aktuelle Debatten über Grenzschließungen und Rückweisungen, als er Bilder der idyllischen Binnengrenzen in Europa zeigte. Sein Fazit: „An den Grenzen lässt sich Migration weder kontrollieren noch regulieren.“ Rückweisungen an den Schengen-Grenzen durchzuführen, wie es die CDU zuletzt gefordert hat, sei zudem gegen europäisches Recht. Wenn das also nicht geht, wie kann Deutschland dann die Migration reduzieren - ohne dabei Recht zu brechen und ohne dabei das andauernde Massensterben im Mittelmeer in Kauf zu nehmen?
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Knaus plädierte für das, wofür er in Deutschland bekannt wurde: Eine Neuauflage des Türkei-Deals. Deutschland müsse eine Koalition bilden mit europäischen Partnern, und der Türkei anbieten, jedes Jahr 30. bis 40.000 Syrer geordnet aus der Türkei aufzunehmen (das wären die Kontingente nur für Deutschland). „Dafür würde die Türkei dann ab einem Stichtag wieder jeden zurücknehmen, der irregulär kommt“, schlug Knaus vor. „Dann kann man das planen, dann wissen wir, wer kommt.“ So werde man den moralischen Ansprüchen gerecht und könnte gleichzeitig für Kontrolle sorgen.
Politisch unklug, geradezu gefährlich sei es, dass die Ampel-Regierung nicht entsprechende Vorhaben energisch voranbringt. Dadurch gebe man „Parteien, die den Rechtsstaat zerstören wollen“, die Chance, Wahlen zu gewinnen. Man müsse keine Scheinlösungen finden und dürfe „keine ideologischen Debatten“ mehr führen. Dafür bekam Knaus dann sogar Applaus von Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link, der sich neben Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze und Ali Ismailovski vom Flüchtlingsrats NRW an der Diskussion in der Wolfsburg beteiligte.