Gelsenkirchen. Gülay Acar ist an den Rollstuhl gebunden und 24 Stunden auf Hilfe angewiesen. Dennoch wagte sie eine siebenwöchige Reise durch Indien.
„Es gibt Länder, die haben mich schon als Kind gerufen“, sagt Gülay Acar. Hawaii gehört dazu, die Inselwelt des Südpazifiks – und vor allem Indien. In diesem Jahr, im Alter von 54 Jahren, hat Gülay Acar das Rufen Indiens erhört und ist hingefahren. So weit, so unspektakulär: Das machen viele Menschen. Aber die wenigsten davon dürften im Rollstuhl sitzen und rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen sein. Gülay Acar hat sich davon nicht aufhalten lassen.
„Ich habe einen ziemlichen Dickkopf“, sagt die 54-Jährige. Blickt man auf ihre Lebensgeschichte, ist man geneigt, das zu glauben. Bei ihrer Geburt wurde sie mit Sauerstoff unterversorgt, das führte dazu, dass sie eine Tetraspastik mit gleichzeitiger Athetose entwickelte. Das heißt: Sowohl beide Arme als auch beide Beine sind spastisch gelähmt, dazu kommt es zu unkontrollierten Zuckungen. Gülay Acar, in der Türkei geboren, aber schon bald danach mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, ist auf einen Rollstuhl angewiesen, bekommt seit 1996 eine 24-Stunden-Assistenz bei der Bewältigung des Alltags.
In Gelsenkirchen leitet Gülay Acar eine Beratungsstelle
Doch die 54-Jährige ist und war nie ein Mensch, der sich durch widrige Umstände von etwas abhalten lässt. Sie geht zur Uni, schließt ihr Psychologie-Studium mit Diplom ab, arbeitet einige Jahre im Oberhausener St. Josef-Hospital. In Essen engagiert sie sich bei den Grünen, ist als Sachkundige Bürgerin Mitglied beziehungsweise stellvertretendes Mitglied im Integrationsrat und im Inklusionsbeirat. Seit 2018 leitet sie in Gelsenkirchen die ergänzende unabhängige Teilhabeberatungsstelle (EUTB), hilft Menschen mit Behinderungen, etwa bei Anträgen oder bei der Kommunikation mit Behörden.
Kein einfacher Weg, schon gar nicht vor 50 Jahren, als die Bedingungen für Menschen mit Behinderungen noch schlechter waren als heute. Einiges habe sich seitdem getan, sagt sie, viel bleibe immer noch zu tun: „Heute kämpft man nicht mehr gegen Windmühlen, heute kämpft man nur noch gegen Behörden.“ Einen großen Vorteil bringe sie aber mit: „Ich habe jede Menge Sitzfleisch und kann viel aussitzen“, sagt sie und lacht.
Zwei Assistenten habe die 54-Jährige die ganze Zeit begleitet
Vor fünf Jahren habe sie angefangen, ihre Träume in die Wirklichkeit umzusetzen, erzählt Gülay Acar. Ihr erstes Abenteuer ist eine vierwöchige Kreuzfahrt durch den Pazifik, von Hawaii über Französisch-Polynesien und Neuseeland bis nach Australien. Gerade der Südpazifik mit seiner Inselwelt sei eine dieser Regionen gewesen, die sie schon immer gerufen habe – genau wie Indien.
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„Im Vergleich zu der durchorganisierten Kreuzfahrt war die Indienreise natürlich noch einmal deutlich abenteuerlicher“, sagt Gülay Acar. „Aber ich hatte das große Glück, zwei Assistenten für die Reise begeistern zu können, die genauso abenteuerlustig sind wie ich.“ Die beiden Assistenten, David Schulz und Tobias Gieseking, waren die ganze Zeit dabei und halfen bei der Bewältigung der kleinen und großen Hindernisse, die so eine Reise mit sich bringt – erst recht, wenn man im Rollstuhl sitzt.
Dieses Erlebnis hat Gülay Acar besonders beeindruckt
Und davon gab es jede Menge. „Wir haben etwa ein Drittel unserer Unterkünfte im Voraus gebucht“, berichtet Acar, „die restlichen vor Ort. Und wir haben schnell gelernt, dass man sich wirklich nicht darauf verlassen kann, dass eine Unterkunft auch wirklich barrierefrei ist, wenn das im Internet so steht – vieles hat sich erst an Ort und Stelle ergeben.“ In solchen Fällen war sie froh, dass sie gleich zwei kräftige Begleiter an ihrer Seite hatte: „Die haben mich dann auch die eine oder andere Treppe hinaufgetragen.“
Sieben Wochen dauerte die Reise, die im Januar 2024 begann. Mit dem Flugzeug ging es zunächst von Frankfurt nach Delhi, von da aus kreuz und quer durch den riesigen Subkontinent, mit dem Flugzeug, mit dem Auto, mit dem Hausboot. Auch mehr als ein halbes Jahr nach dem Ende der Reise trägt Gülay Acar noch immer ganze viele Eindrücke mit sich herum: Von Agra mit dem weltberühmten Taj Mahal, von Goa und Madras, von Varanasi, der „heiligsten Stadt Indiens“. Für strenggläubige Hindus gilt es als erstrebenswert, in Varanasi im Ganges zu baden – aber auch, dort zu sterben und verbrannt zu werden. „Dort brennen riesige Scheiterhaufen, auf denen 24 Stunden am Tag Verstorbene verbrannt werden“, erzählt Gülay Acar, ein Erlebnis, das sie besonders beeindruckt hat. Ihre Erkenntnis: „Leben und Tod haben dort einen ganz anderen Stellenwert als bei uns“, sagt sie. „Man muss das Leben genießen und lieben – aber der Tod gehört eben auch dazu“.
Reisebericht am 25. September im Schloss Stolzenfelz
Natürlich sei sie aufgefallen in Indien: Als Frau im Rollstuhl, noch dazu mit blondgefärbten Haaren, die Menschen seien neugierig auf sie zugekommen. „In Indien haben die Menschen ein anderes Gefühl für Distanz als in Europa. Ich habe mit meinen beiden Assistenten ein Codewort für den Fall vereinbart, dass es mir zu eng wird – dann haben sie mich da herausgeholt“, sagt sie. Aber in solchen Situationen gelte das, was für die ganze Reise gegolten hätte: „Es ist wichtig, dass man immer mal wieder aus seiner Komfortzone herauskommt und sich den Herausforderungen stellt“, ist sie sich sicher.
Gesundheitlich hat sie die Reise gut überstanden, lediglich eine Erkältung habe sie einige Tage lang geplagt – „wenn man so eng mit seinen Assistenten zusammen lebt, ist das auch kein Wunder“, sagt sie. Und was steht als Nächstes auf dem Programm? Gülay Acar könne sich auf jeden Fall eine weitere Reise vorstellen. „Die darf dann aber gerne ein bisschen weniger abenteuerlich sein“, sagt sie.
Wer mehr über die Reise von Gülay Acar erfahren möchte, der hat am Mittwoch, 25. September, Gelegenheit dazu. Um 16 Uhr präsentiert die 54-Jährige ihren Erlebnisbericht mit Foto- und Videopräsentation im Café Schloss Stolzenfelz an der Ahstraße 10. Da die Plätze begrenzt sind, bitten die Organisatoren um eine Anmeldung bis zum 20. September, und zwar per E-Mail an g.acar@teilhabeberatung.nrw.