Gelsenkirchen. Der Gelsenkirchener Kinderarzt Dr. Christof Rupieper schildert seine Erfahrungen: „Habe hautnah den sozialen Abstieg der Bevölkerung miterlebt.“
„Seit 30 Jahren praktiziere ich als Kinderarzt in einem sozialen Brennpunkt und habe dadurch hautnah miterlebt, wie sich der soziale Abstieg der Bevölkerung entwickelt hat“: Der in Gelsenkirchen bekannte Kinderarzt Dr. Christof Rupieper ist ein Mann der klaren Worte. Und genau so leitet er auch seinen ausführlichen Gastbeitrag für den Blog der Stiftung Zu-Wendung für Kinder mit Sitz in Bielefeld ein. Anhand der fiktiven „Familie Mustermann“ stellt Rupieper darin die gesamte Problematik beispielhaft dar – denn: „Während ich solche Familien vor 30 Jahren ein- bis zweimal im Quartal gesehen habe, sehe ich sie aktuell zwei bis drei Mal pro Woche.“ Er zeichnet ein ernüchterndes Bild – macht gleichzeitig aber auch Hoffnung.
Rupieper lobt „bemerkenswerte Arbeit“ der Gelsenkirchener Institutionen
Anfang des Jahres hatte Christof Rupieper seine Praxis an der Ebertstraße an seine beiden Nachfolgerinnen Stefanie Düchting und Sabrina Seidel übergeben. Und auch wenn Rupieper nun ein bisschen mehr Ruhe in sein Leben einkehren lassen hat, schlüpft er doch weiterhin in die Rolle des Warners.
Die Maßnahmen und die Vielfalt der hiesigen Hilfsangebote wolle er nicht schlecht reden, betont er und schreibt in seinem Beitrag von einer „bemerkenswerten Arbeit“, die die Institutionen und Organisationen in Gelsenkirchen leisten würden. Vor allem im Bereich der Kindeswohlgefährdung habe sich bis heute viel getan, sei vieles besser geworden. „Und dennoch – die Situation hat sich ständig verschlechtert.“
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Warum? Es liegt Rupiepers Ausführungen nach an vielen, ganz unterschiedlichen Gründen. „Die Ursache, warum viele gute Projekte nur begrenzt funktionieren, ist ganz einfach die, dass im gegenwärtigen System die Zielgruppe aktiv von sich aus auf die Helfersysteme zukommen muss. Ein Projekt dagegen müsste aufsuchend arbeiten und nachhaken, wenn Hilfeleistungen nicht angenommen werden“, sagt er beispielsweise.
„Unsere Gesellschaft erlebt einen massiven Umbruch auf allen Ebenen. Jedoch wurden die Verwaltungsstrukturen seit ,Kaisers Zeiten‘ kaum verändert oder angepasst. Es gibt ein klar umgrenztes Gesundheitswesen mit spezifischen Aufgaben sowie ein Sozialwesen mit eigenen, separaten Strukturen und Aufgabenbereichen“, ist Rupiepers Beobachtung. In den vergangenen Jahren habe es einen Anstieg von Bürokratie und Dokumentationsaufwand gegeben, sowohl im medizinischen als auch im pädagogischen Bereich.
„Familie Mustermann hat viele Gesichter und spiegelt eine Vielzahl von Situationen wider“
Zurück zu Familie Mustermann aus Gelsenkirchen, was macht sie also aus, wie lebt sie? Zunächst: Diese eine Familie, die typisch für diese Stadt ist, es gibt sie nicht. Rupieper schreibt: „Die Familie Mustermann hat viele Gesichter und spiegelt eine Vielzahl von Situationen wider.“ Da wäre seiner Erfahrung nach die Mutter, die „die Auffälligkeiten ihrer Kinder nicht ernst nimmt und als unbedeutend abtut“, da wäre der Vater von drei Kindern, alleinerziehend, depressiv, die „arabischstämmige Mutter, die eine andere Vorstellung von Erziehung hat“, oder „südosteuropäische Zuwanderer, die keine Kenntnisse über Kindertagesstätten oder Förderstellen haben“, bis hin zu „Großfamilien, die die Notwendigkeit von Förderung nicht erkennen.“
Die Liste, sie geht noch weiter: Da wären auch noch die Eltern mit „sprachlichen Barrieren“, oder auch „Mütter, deren Familien seit drei Generationen Sozialhilfe beziehen und die nichts anderes kennen“, oder „traditionell muslimische Familien, in denen Eingriffe in das Familienleben problematisch sind“.
Die Stiftung „Zu-Wendung für Kinder“
Die Stiftung „Zu-Wendung für Kinder“ mit Sitz in Bielefeld engagiert sich nach eigenen Angaben „für eine sachlich-kritische Aufklärung der Öffentlichkeit über die notwendigen Bedingungen für das gesunde Aufwachsen der Kinder und für die optimale Entwicklung ihrer besonderen Persönlichkeit“.
Dabei fördert die Stiftung den „Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Bindungsforschung in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit“. Die Kritik der Stiftung: Die Ergebnisse einer „weltanschaulich neutralen Bindungsforschung“ würden weder im wirtschaftlichen, noch im politischen Kontext Gehör finden. Auf der Homepage heißt es weiter: „Die Bindungsforschung verfolgt diese Veränderungen seit Jahren mit wachsender Besorgnis und verweist auf mögliche gesellschaftliche Spätfolgen.“
Weitere Informationen gibt‘s im Netz unter fuerkinder.org
Sie alle hat Rupieper in seiner Praxis gesehen. Und er sah auch, dass die Mütter und Väter dieser Familien trotz größter Bemühungen nicht umfassend erreicht worden sind. Das liege unter anderem an den sozialen und kulturellen Hintergründen. Rupieper wirbt so gesehen auch ein Stück weit für Verständnis – beispielsweise für die Mutter, die den riesigen Fernseher zwar abstottern muss, sich aber trotzdem freut, dass ihre „Kinder damit bei Youtube lernen können.“
Und weiter schreibt der Kinderarzt: „Die Stunden mit den Kindern vor dem Fernsehen genießt sie. Sie ist glücklich mit ihren Kindern und fühlt sich als Mutter richtig gut, wenn sie ihren Kindern nah ist, sie umarmt. Sie hat Angst davor, erneut als unfähig angesehen zu werden und sich dumme Sprüche anhören zu müssen, wenn sie zu den Therapien gehen würde oder eine Familienhilfe ins Haus käme. Es fehlt ihr auch oft einfach die Kraft, sich zu solchen Maßnahmen aufzuraffen.“
Tiefe Ablehnung gegen staatliche Maßnahmen
Neben der oben beschriebenen Familie hat Rupieper im Lauf seiner jahrzehntelangen Arbeit auch Familien aus „völlig anderen Kulturkreisen oder Familienstrukturen“ kennengelernt. Das seien die „Familien, insbesondere aus dem südosteuropäischen Raum, die als Armutsmigranten hierherkommen. Sie kennen aus ihrem Heimatland nur staatliche Repressalien und hegen daher eine tiefe Ablehnung gegen alle staatlichen Maßnahmen.“ Oder wieder andere „Familien aus sehr armen Regionen, die keine Therapien oder Frühfördermaßnahmen kennen. Sie empfinden ihr in unseren Augen deutlich entwicklungsverzögertes Kind als völlig normal.“
Christof Rupieper, dem Mann der klaren Worte, geht es auch darum, dass die Spannweite zwischen Arm und Reich jedes Jahr größer werde. „Und irgendwann merken ,die da unten‘, dass sie nicht mithalten können.“ Besondere Sorge bereiten dem erfahrenen Pädiater die Kinder: Viele von ihnen kommen beispielsweise ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Schule, ihre Chancen sind dadurch extrem beeinträchtigt.
Was also könnte eine Lösung sein? Die Anzahl der Ärzte und Therapeuten zu erhöhen, sieht Rupieper nicht als erfolgversprechenden Ansatz. Denn: „Die sozialen Herausforderungen lassen sich eben nicht allein durch medizinische Maßnahmen bewältigen.“
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Rupieper fordert etwa eine Koordinierungs- beziehungsweise Kontrollstelle. Oder die Vermeidung von Doppeluntersuchungen, eine Nachverfolgung, ob eine verordnete Therapie wirklich eingehalten wurde oder der Einsatz von Logopäden direkt in den Kitas vor Ort. Er geht noch einen Schritt weiter: „Wenn in Brennpunkt-Kitas zusätzlich eine Logopädin, Ergotherapeutin oder Physiotherapeutin beziehungsweise eine in diesen Bereichen ausgebildete Fachkraft arbeiten würde, wäre das sehr niederschwellig und kostengünstig wirksame Prophylaxe. Als Kostenträger müssen die Krankenkassen mit ins Boot genommen werden. Diese profitieren mittel- bis langfristig davon am meisten.“
Und der Kinderarzt gibt noch eine weitere Empfehlung: Vor allem dem Selbstwertgefühl aufzuhelfen, schreibt Rupieper. Und weiter: „Diese nicht oder schwer erreichbaren Eltern können manchmal nerven und stoßen bei uns auf völliges Unverständnis, aber ihr Verhalten ist oft erklärbar.“ Es falle jedem schwer, bei dieser Klientel freundlich zu bleiben, besonders wenn es sich um „NWPs (nicht-wartezimmerfähige Patienten)“ handele. Ein Lob würde da schon eine Menge bewirken.
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