Gelsenkirchen. 24 Stunden zusammen: Das Ehepaar Abraham bringt mit ihrer MS Nordland Korn von A nach B – und nach Gelsenkirchen. Wo sie an ihre Grenzen stoßen.
„Ich bin an Bord geboren und groß geworden“, erzählt Georg Abraham. Seit fast 45 Jahren ist er selbstständiger Binnenschiffer, transportiert Getreide über die Kanäle der Republik – vielfach auch in den Gelsenkirchener Hafen zur Mühle Rüningen. Sein Arbeitsplatz ist gleichsam die fahrende Heimstatt für ihn und seine Frau Stefanie: Die MS Nordland ist stattliche 84 Jahre alt. Und während die Abrahams zum Jahresende in Rente gehen, hat das Schiff noch einige Arbeitsjahre vor sich.
Von außen betrachtet vermutet man, der Schiffer habe an Bord eine schöne, abenteuerliche Kindheit gehabt. Jedoch, das lernt man im Gespräch mit dem Paar schnell, Landratten haben ein recht romantisches Bild von der Binnenschifffahrt im Sinn, das vielfach nicht der Realität entspricht. „Solange meine ältere Schwester mit mir an Bord war, war das auch schön.“ Nur musste die Schwester, wie alle Kinder von Schiffer-Familien, ab der ersten Klasse ins Internat. Der kleine Georg blieb allein an Bord zurück. „Von da an habe ich im Vorüberfahren am Ufer andere Kinder miteinander spielen sehen – und konnte nicht mitspielen.“
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Der Schritt an Bord führt raus aus der Gesellschaft
Insofern wäre das Internat auch eine Chance gewesen, danach einen ganz anderen Beruf zu ergreifen. „Wenn man mit Gleichaltrigen in einer Gemeinschaft aufwächst, hat man andere Ideen von der eigenen Zukunft.“ Und doch wird der junge Mann Binnenschifffahrtskapitän. „Der Schritt an Bord war für mich sehr schwierig. Er führte für mich heraus aus der normalen Gesellschaft und in die Isolation.“ Denn die Welt an Bord eines Binnenschiffes ist klein.
Nur ein Jahr nachdem er sich selbstständig gemacht hat, lernt er seine spätere Frau Stefanie kennen. „Ich bin an Land groß geworden, in Bremen“, erzählt sie. „Ich hatte eine neutrale Haltung zu Schiffen. Als Kind habe ich gern zugeschaut beim Be- und Entladen“, erinnert sich die gelernte Raumausstatterin, die viel dort Erlerntes an Bord gebrauchen kann. „Die handwerklichen Fähigkeiten, die Korrektheit, das Augenmaß, das ist alles sehr wichtig. Besonders handwerkliche Arbeiten fallen ja jede Menge und in jeder Ausformung an. Tischlerarbeiten, Elektroarbeiten, der Umgang mit Farben, das sind alles Dinge, die man können muss, um das Schiff in Betrieb zu halten. Denn ein Ausfall kündigt sich nicht an“, sagt sie und lacht.
Die Ausfahrt aus dem Hafen ist Chefsache
Dass es zu einem gemeinsamen Leben an Bord der MS Nordland kommt, das sei, erzählt Stefanie Abraham, zunächst gar nicht sicher gewesen. „Ich habe erste nach der Hochzeit 1985 entscheiden, dass ich an Bord gehe.“ Ein Schritt, den sie nie bereut habe. „Jeder Tag ist es anders.“ Das Besondere: Sie muss ab diesem Moment mit ihrem Mann ein Team bilden, eine Mannschaft. „Ich habe dann von meinem Mann das Fahren gelernt. Denn als Ungelernte vorn zu stehen und mit den dicken Tauen zu hantieren, das wollte ich nicht. Also habe ich mich für die technische Seite entschieden und mache im Steuerhaus die nautische Arbeit. So ist es bis heute geblieben.“ Einzige Ausnahme: „Die Ausfahrt aus dem Hafen, das ist Chefsache.“ Denn wie auf einer Straße müsse man nicht nur das eigene Gefährt im Blick haben und bedienen, man müsse auch auf den Verkehr achten. Schließlich fährt man ja vom „sicheren Hafen“ aus wieder auf einen vielbefahrenen Wasserweg.
Auf dem 700-Tonnen-Schiff miteinander zu leben und zu arbeiten, das bedeutet für beide eine ziemliche Nähe. „Das ist nicht immer einfach“, sagt sie. Und er ergänzt: „Aber wenn man mal alleine ist, dann fehlt der andere sofort. Es schleift sich so ein, dass man alles zusammen macht.“ - „Und es geht ja so weiter, wenn wir zu Hause sind. Wir reden hier von Jahrzehnten einer 24-Stunden-Ehe.“ Einer glücklichen. Das müsse ihnen erst einmal jemand nachmachen. Das Erfolgsrezept verrät Georg Abraham auch gleich: „Ob zu Hause oder an Bord, jedes Problem wird gemeinsam besprochen und dann wird eine Lösung erarbeitet.“
„Wir fühlen uns nicht wertgeschätzt“
Nur gebe es heutzutage immer mehr Herausforderungen. Das Klischee von der Freiheit des Schiffer-Lebens nämlich stimme so nicht mehr. „Man stößt jeden Tag an eine andere Mauer“, bricht sich bei ihm ein gewisser Frust Bahn. Der Grund: Die marode Infrastruktur der deutschen Wasserwege. So fallen etwa oft Schleusen aus. „Wir haben gestern noch Witze gemacht, dass es mit den Schleusenterminen so ist, als versuche man, einen Termin beim Facharzt zu bekommen“, sagt Stefanie Abraham. „Das mit der Freiheit, das haben wir auch mal gedacht. Aber wenn man derart eingeschränkt wird, verliert man die Lust – und so geht es auch vielen aus unserer Zunft.“
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Dazu kommen weitere bürokratische Einschränkungen. „Die Politik hat vorgesehen, dass alle Schiffe einem gewissen Standard unterliegen sollen. Das bedeutet, dass alle Schiffe, die klein sind oder alt, verschwinden und alle Mittelständler aufgeben müssen“, sagt Georg Abraham. Und seine Frau ergänzt: „Dadurch fühlen wir uns nicht wertgeschätzt. Alle reden von der Verkehrswende – aber keiner redet von uns.“