Gelsenkirchen-Schalke. Erst unkonventionell, dann brutal: Wegen Harry Riemer entzweite sich eine Gelsenkirchener Gemeinde. In Sachsen wurde er zum Sex-Täter.

Er hatte als Pfarrer mehr als nur ein Faible für Esoterik, betrieb eine Pferde-Ranch auf einem Gelsenkirchener Gemeinde-Grundstück - und taucht in der Liste 1295 mutmaßlicher Täter auf, die die deutschlandweite Forum-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche im Januar veröffentlicht hat: Harry Heinz Riemer. Ende 2002 wurde der Theologe in Sachsen wegen neunfachen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen verurteilt. Von 1986 bis 1991 als Pfarrer in Schalke tätig, sorgte er dort mit seiner „unkonventionellen Jugendarbeit“ für Begeisterung wie für Entsetzen. Am Ende wollte das Presbyterium ihn nur noch loswerden.

Das berichtet der Redaktion jedenfalls sein früherer Amtskollege Hans-Joachim Dohm, bis zu seiner Pensionierung 2008 Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Bismarck-West und, bundesweit bekannt, in der Schalke-Arena. Der heute 80-Jährige hatte nicht nur 1991 für Riemer in Schalke einspringen müssen, weil dieser nach der öffentlichkeitswirksamen Schlachtung seines Hundes von der Gemeinde-Leitung herausgeworfen worden war. Er kannte ihn auch persönlich.

Gelsenkirchener Pfarrer hatte keine Angst vor Experimenten

Mit seiner Leidenschaft für Esoterik, der Pferde-Ranch auf dem Gemeinde-Grundstück und seinen Umgang mit Jugendlichen löste der Geistliche freilich Befremden bei Dohm aus. „Er entzweite die Gemeinde“, erinnert sich der 80-Jährige noch heute gut.

Es war 1986, als Riemer 33-jährig seinen Dienst als Gemeindepfarrer in Schalke antrat. Er galt als engagiert, zupackend sowie experimentierfreudig und wollte viele Menschen erreichen, zumal die jungen. Scheu vor ungewöhnlichen Methoden hatte er nicht: Mitten im Schalker Wohnviertel eröffnete er einen eigenen Zoo, der sich schließlich zu einer Pferde-Ranch auswuchs. Vorbild war ihm ein Kleintierzoo von Jugendlichen für Jugendliche in einer Nachbarstadt.

Pfarrer aus Gelsenkirchen-Schalke war mit Wünschelrute unterwegs und befragte Pendel

Während die Einrichtung zahlreiche Kinder und Jugendliche anlockte, die sich um die Tiere kümmern wollten, schimpften Nachbarn über Ungeziefer und Tierschützer über nicht artgerechte Haltung, sodass das Presbyterium dem Pfarrer laut einem 2010 erschienenen „Chrismon“-Artikel verbot, die Tiere auf dem gemeindeeigenen Grundstück zu halten. Riemer machte aus der Not eine Tugend, er zog mit den Vierbeinern an den Stadtrand. Und die Jugendlichen, sie zogen mit.

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Riemers Charisma war in der Gemeinde berühmt wie berüchtigt. Die einen waren offenbar fasziniert von der nahbaren Offenheit des motorradbegeisterten, tierliebenden Pfarrers, die anderen hingegen irritiert bis abgestoßen. „Er war so ein Alternativer, der gerne mit der Wünschelrute unterwegs war und pendelte“, also etwa mit einer Astgabel nach krankmachenden Erdstrahlen oder Wasseradern suchte und ein Pendel bei konkreten Fragestellungen zur Selbsterkenntnis einsetzte. Dafür habe Riemer auch ihn, Dohm, mal zu begeistern gesucht. „Das alles war mir aber zu abstrus“, so Dohm.

„Schlachtung“ von Schnauzer-Mischling im Gelsenkirchener Pfarrhaus bildete Zäsur

Als Riemer im April 1991 seinen angeblich kranken Schnauzer-Mischling regelrecht schlachtete, läutete dies das Ende seiner Zeit als Pfarrer in Schalke ein, berichtet Dohm. Riemer habe dem Hund per Schlag ins Genick betäuben wollen, freilich ohne Erfolg. Also habe er versucht, die Halsschlagader zu durchtrennen. Auch das vergeblich: Das Tier lebte noch und folgte - eine Blutspur hinter sich herziehend - seinem Herrchen vom Pfarrhaus bis zum Rhein-Herne-Kanal, wo der Hund schließlich starb, so Burkhard Weitz in der Zeitschrift „Chrismon“.

„Dieser Vorfall war für das Presbyterium der Anlass, Riemer freizustellen. Zwar gab es daraufhin eine Unterschriften-Aktion an einem Kiosk von seinen Anhängern, die seine Wiedereinstellung forderten. Aber daran war nicht mehr zu denken. Die Spannungen waren einfach zu groß in der Gemeinde“, erinnert sich Dohm an die Stimmung, als er vorübergehend in Schalke eingesetzt wurde, „um wieder Struktur und Ruhe reinzubringen“. So aufgeheizt war diese, dass Tierfreunde gar den Sonntagsgottesdienst störten, indem sie vor der Kirchentür mit Lautsprechern das Gejaule leidender Tiere imitierten.

Amtsgericht Eisleben in Sachsen bescheinigte Ex-Gelsenkirchener „sektenähnliche Strukturen“

Am Ende brauchte es zwei Jahre, bis Riemer Gelsenkirchen endgültig den Rücken kehrte und eine Stelle im sächsischen Schkeuditz bei Leipzig antrat. Auch dort engagierte er sich besonders in der Jugendarbeit. Wie es in der Urteilsbegründung des Amtsgerichts Eisleben 2002 heißt, bildete sich unter ihm 1998 bis 2001 ein fester Stamm an Mitgliedern einer Jungen Gemeinde heraus, die er mit „sektenähnlichen Strukturen“ geführt habe. So habe er die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der fernöstlichen Meditations-Methode Zen unterwiesen, um „zu einer Vollkommenheit zu gelangen.“

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Mehrmals wöchentlich wurden Quigong, Meditation, Wünschelrutengänge und Pendelei durchgeführt, heißt es in der Urteilsbegründung weiter. Abends seien Gespräche über die Bibel, das tägliche Essen, über Sexualthemen und anderes geführt worden. Dabei sei Sexualität von Riemer als notwendiger Bestandteil einer Freundschaft dargestellt worden.

Gericht: Einstiger Pfarrer aus Gelsenkirchener wollte „absolut verehrt“ werden

Der verheiratete Familienvater habe darauf hingearbeitet, „dass ihn alle absolut verehren“, ihn „unterstützen und sich seinem Willen fügen.“ Ergebnis sei, dass die Gemeindemitglieder und besonders eine 15-/16-jährige ehemalige Konfirmandin von ihm abhängig geworden seien, was Riemer am Ende für sexualisierte Gewalt bei Ausflügen und in seinem Pfarrhaus ausgenutzt habe. Sogar von einem Vertrag ist zu lesen, den der Pfarrer mit der dann 16-Jährigen abgeschlossen habe, damit diese ihn einmal monatlich sexuell gewähren lasse.

42 Missbrauchs-Fälle gegenüber der Minderjährigen warf die Staatsanwaltschaft Riemer schließlich vor, neun sah das Gericht als erwiesen an. Die einjährige Freiheitsstrafe wurde für drei Jahre auf Bewährung ausgesetzt, hinzu kam eine Geldstrafe in Höhe von 6000 Euro. Die Schwere der sexuellen Handlungen sei „in jedem Einzelfall im unteren Bereich der denkbaren Tatbestandsverwirklichung anzusiedeln“, jedoch habe Riemer die junge, sexuell noch unerfahrene Frau so „psychisch intensiv beeinträchtigt“, dass sie sich habe in Therapie begeben müssen.

Amtsgericht in Sachsen sah kirchenschädigendes Verhalten bei Ex-Gelsenkirchener

Auch seien seine Handlungsweisen „geeignet, um ein tiefes Misstrauen der Bürger in die kirchliche Gemeindearbeit zu entwickeln, die Handlungsweise des Angeklagten ist auch geeignet, um das Ansehen der Kirche zu beschädigen“, mahnte das Gericht (AZ: 5 Ls 250 Js 31707/01).

Ob Riemer nicht erst in Sachsen sexuell gewalttätig gegenüber Minderjährigen wurde, war nicht Gegenstand des juristischen Verfahrens. Dem Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid liegen nach eigenen Angaben bislang keinerlei Meldungen dazu vor. Sein jüngster Aufruf an Betroffene sexualisierter Gewalt, sich bei kirchlichen Behörden zu melden, gelte nach wie vor. Die Forum-Studie geht bei der Zahl der bislang bekannten 2225 Opfer von einer „Spitze des Eisbergs“ aus.

Die Redaktion konnte Riemer selbst nicht zu den Vorwürfen befragen. Wie das Einwohnermeldeamt Leipzig auf Nachfrage mitteilte, ist er dort verstorben - nachdem er seinen Nachnamen vor einiger Zeit geändert hatte. Er war nach der strafrechtlichen Verurteilung von der Westfälischen Landeskirche aus seinem Pfarramt entfernt worden.