Gelsenkirchen. Es war der 28. Oktober 1938, als Nazi-Schergen den 13-jährigen Hermann Neudorf aus dem Schulunterricht am Realgymnasium in Horst (heute Gesamtschule) holten. Ein Leidensweg begann...

Gemeinsam mit seiner Mutter Frieda wurde Hermann Neudorf nach Polen ausgewiesen, wo die beiden bereits einen Tag später eintrafen. Es war der Beginn eines langen Leidensweges. Hermann Neudorf, einziges Kind von Simon Arie und Frieda, sollte den Holocaust als einziger der dreiköpfigen jüdischen Familie überleben ...

Es war eine bewegte Zeit zwischen Ausweisung und Kriegsende. Lebensgefahr war ständiger Begleiter des Jungen, der am Ende Buchenwald-Häftling Nr. 82609 war.

Mit letzter Kraft begab sich Neudorf auf den von der SS angeordneten „Todesmarsch“ von Weimar nach Dachau, als amerikanische Soldaten ihn und seine Mithäftlinge unweit von Jena befreiten. In seinen Aufzeichnungen über diese Zeit schrieb er: „Ich werde diesen 14. April 1945, den Tag meiner Befreiung, nie vergessen.“ Zum ersten Mal wieder wie ein Mensch in einem Bett schlafen ...

Vater Simon Neudorf wurde 1941 ermordet

Hermann Neudorf, knapp 20 Jahre alt, war allerdings auch allein. Seine Mutter Frieda wurde am 28. Juli 1944 bei der Auflösung des Konzentrationslagers Kaiserwald von den Nazis erschossen. Vater Simon Neudorf, nach dem Überfall der Deutschen auf Polen ins KZ Sachsenhausen verschleppt, wurde dort am 14. März 1941 ermordet. Die Urne mit seinen sterblichen Überresten wurde der Familie gegen Gebühr zugestellt; die Beisetzung erfolgte am 16. April 1941 auf dem jüdischen Friedhof in Ückendorf. Möglich war das, weil Hermann und Frieda Neudorf die Flucht aus dem Ghetto in Lodz gelungen war und sie im Juni 1940 nach Gelsenkirchen zurück kehren konnten.

Der Leidensweg von Mutter und Sohn ging weiter – mit der ersten Aufforderung für die Deportation. In seinen Erinnerungen, die Hermann Neudorf niedergeschrieben hat, steht es so nachzulesen: „Am 20. Dezember 1941 erhielten wir von der Gestapo, Staatspolizeistelle Gelsenkirchen, die erste Aufforderung: ,Sie haben sich auf einen Transport zum Arbeitseinsatz nach dem Osten vorzubereiten. An Gepäck darf 10 RM mitgenommen werden. Die Fahrtkosten sind selbst zu entrichten.’ Also alles das, was wir nach den Judenpogromen des 9. November 1938 wieder mühsam angeschafft hatten, sollte zurückgelassen und den raubgierigen Nazis preisgegeben werden!“

Trost bei Holocaust-Überlebenden

Weiter schrieb Neudorf: „Meine Mutter lag krank darnieder. Die Nerven der schwergeprüften Frau versagten. Es war zu viel, seit dem furchtbaren 9. November ... Täglich neue Qualen. Über Nacht arm, Hab und Gut zerstört oder geraubt.

Hermann Neudorfs Sohn reiste aus den USA an

Hermann Neudorf lebt heute 87-jährig in den USA. Zum Gedenken an seinen Leidensweg wurde an der Markenstraße 19 am Montag neben den Stolpersteinen für seine Eltern der dritte Stein verlegt.

Sohn Steven Neudorf war auf Einladung von Heike und Andreas Jordan mit seiner Familie eigens aus den Staaten angereist, um seinen Vater zu vertreten. „Meine Eltern haben Trost bei anderen Holocaust-Überlebenden gefunden“, sagte er, glücklich darüber, „dass unser Vater überlebt hat“. Und er sagt: „Wir fühlen uns geehrt, mitten in einer deutschen Gemeinde zu stehen, in der Angehörige der Kriegsgeneration sich vor den Opfern verneigen.“

Jüdische Gemeinde feierte Montag Schemini Azeret

Nicht alle Besucher der Stolperstein-Verlegungen am Montag wusste es: Die Jüdische Gemeinde feierte den achten und letzten Tag des Laubhüttenfestes (Sukkot), das Jahr für Jahr am Ende der Erntesaison steht. Am Schemini Azeret, an dem sich die Gemeinde bis 14 Uhr zu Gebeten und Lesungen in der Synagoge versammelt hatte, nahm auch die Familie Neudorf teil.

„Dieser Tag ist für uns ein Vollfeiertag, an dem jegliche Arbeit verboten ist“, erklärte Judith Neuwald-Tasbach, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Das sei auch der Grund dafür, dass, im Gegensatz zu früheren Steinverlegungen, kein Vertreter der Gemeinde an den Gedenkorten für die jüdischen NS-Opfer ein Gebet gesprochen hat. Allerdings gehöre auch das zum Feiertag Schemini Azeret: „Wir haben in der Synagoge das Jiskor-Gebet für die Holocaust-Opfer gesprochen.“

An den Orten der Steinverlegung hatte dafür Heike Jordan (nicht Elke, wie versehentlich geschrieben) am Montag kurze Texte über die Menschen verlesen, zu deren Gedenken man sich versammelt hatte. An der Grillostraße, dem Steinort für Pater Vell, war Gemeindereferentin Elvira Neumann zur Stelle.

Geschichtsbewusstsein fördern

Was Judith Neuwald-Tasbach im Nachgang äußerst betroffen machte, war der Hinweis im WAZ-Bericht auf die hässlichen Begleitumstände der Stolperstein-Verlegung in Horst, die sogar zum Polizeieinsatz führten. „Ich bin sehr betroffen, dass sich so etwas im Beisein der Familie Neudorf ereignet hat. Ausgerechnet am Tag der Erinnerung an seine ermordeten Großeltern und an das Leid des Vaters musste Steven Neudorf erfahren, wie respektlos Menschen sein können“, sagte sie im Gespräch mit der WAZ. Das Geschichtsbewusstsein dieser Leute müsse gefördert werden. Auch das gehöre zu diesem Land.