Essen. Die Tochter von Talih Seval Tuncer aus Essen ist an einem extrem seltenen Syndrom erkrankt. Wie sie damit umgeht und was sie anderen Eltern rät.
Die Geburt ihres ersten Kindes ist für viele Mütter ein großes Glück. Talih Seval Tuncer (heute 40 Jahre alt) aus Borbeck konnte weder die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft noch die erste Zeit mit ihrem Baby genießen. Stattdessen stellten Ärzte immer neue Vermutungen an, unter welchen verschiedenen Behinderungen ihre Tochter leiden werde. Sie rechneten damit, dass sich das Kind kognitiv nicht entwickeln würde. Für die junge Mutter, damals erst 23, ein „Weltuntergang“.
Talih Seval Tuncer kam mit zwölf Jahren aus der Türkei nach Deutschland, machte hier eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Eigentlich hätte sie gerne Medizin studiert. Daran war aber nach der Geburt ihrer Tochter nicht mehr zu denken. Es dauerte, bis sie Klarheit darüber hatte, woran ihr Kind tatsächlich leidet. Denn die Erkrankung ist so extrem selten, dass längst nicht jeder Arzt sie kennt.
Mädchen aus Essen wurde mit vielen Beeinträchtigungen geboren
„Oto-palato-digitales Syndrom“ nennt sich die Krankheit von Tuncers Tochter. Sie betrifft mehrere Körperteile und kann zu verschiedenen körperlichen und entwicklungsbedingten Problemen führen. „Eine Katastrophe“ sei diese Diagnose für sie damals gewesen, erinnert sich Tuncer. Zumal sie als junge Mutter mit 23 Jahren eigentlich „selbst noch ein Kind“ gewesen sei. Nicht alle Vermutungen der Ärzte bestätigten sich. So sei ihre Tochter glücklicherweise geistig gut entwickelt. Und doch habe sie einige Beeinträchtigungen, die alle auf das Syndrom zurückgehen. Darunter eine Muskelversteifung, die im Alltag beeinträchtigt.
Mutter von kranker Tochter: „Die Ehe leidet, das Umfeld leidet“
Vier Jahre lang habe sie quasi mit ihrer Tochter in Krankenhäusern gelebt, berichtet Tuncer, habe Weihnachten und Silvester dort verbracht. Manualtherapie, Logotherapie, Ergotherapie und Physiotherapie bestimmten ihren Alltag. Sie habe einfach nur noch funktioniert und sei oft alleine gewesen mit ihrem Kind. Denn ihr Mann habe ja gearbeitet, um das Geld nach Hause zu bringen.
„Die Ehe leidet, das Umfeld leidet. Ich musste Freundschaften und Träume aufgeben“, so die 40-Jährige. Mit der Zeit habe sie gesundheitliche und psychosomatische Probleme entwickelt. „Warum gerade ich?“, habe sie sich ständig gefragt. „Warum dürfen andere ihr Leben ganz normal weiterleben, während ich nur noch im Krankenhaus bin?“
Essener Mutter hat Heilungsprozess in Buch verarbeitet
Wie sie schließlich lernte, die Situation zu akzeptieren und inneren Frieden zu finden, hat Tuncer in einem Buch aufgeschrieben. „Die Kraft des Loslassen“ heißt das knapp 200-seitige Werk, in dem sie ihren Heilungsprozess verarbeitet hat. Heute sieht sie alles, was passiert ist, als Lehre.
Was genau sie gelernt hat? Zum Beispiel „aus Kleinigkeiten große Freude zu ziehen“, sagt die Mutter, die sieben Jahre nach der Geburt ihrer Tochter wieder schwanger wurde und einen Sohn bekam, der nicht unter Beeinträchtigungen leidet. Und „potenzialorientiert statt problemorientiert“ zu denken. Außerdem habe sie gelernt, sich Zeit zu geben. Denn: „Man kann vieles schaffen, wenn man sich realistische Ziele setzt.“
Autorin aus Essen: Schreiben als Therapie
So habe sie für sich erkannt, dass das mit dem Medizinstudium nicht mehr werden würde. Dafür machte sie aber eine Weiterbildung zur Mentorin im Gesundheitswesen und begann ein Studium der Berufspädagogik. Heute ist sie Dozentin an einem Bildungsinstitut und arbeitet in einer zentralen Notaufnahme. Ihre Kinder hat sie manchmal einfach mit in den Hörsaal genommen. „Man hat auch als Mutter viele Möglichkeiten“, sagt sie.
Tuncer ist stolz auf die Stärke und den Zusammenhalt, den ihre Familie entwickelt hat. Sie bekomme viel Unterstützung von ihrem Mann, sagt sie. Die Herausforderungen habe sie angekommen und sie sei glücklich mit ihrem Leben. Durch die Änderung ihrer Orientierung habe sie festgestellt, wie flexibel sie sei. „Ich habe durch meine Tochter Fähigkeiten entdeckt, die mir nicht bewusst waren“, sagt sie. „Deshalb bin ich so dankbar, dass ich meinen Engel habe.“
Das Schreiben sei für sie therapeutisch gewesen. Es habe ihr geholfen, vieles zu verarbeiten und sich zu reflektieren, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen. Sie selbst habe auch viele Bücher gelesen. Nun hoffe sie, eine Motivationsquelle für andere Betroffene in einer schwierigen Lebenssituation zu sein.
16-Jährige aus Essen geht auf eine Förderschule
Heute ist Tuncers Tochter 16 Jahre alt. Sie wird ihr Leben lang Hilfe im Alltag brauchen. Zeitweise wird sie nachts beatmet, wenn sie schlecht Luft bekommt. Sie benötigt Hilfsmittel wie eine Fußprothese und manchmal einen Rollstuhl. Doch sie ist kognitiv gut entwickelt, besucht eine Förderschule mit Schwerpunkt Sprechen und Hören, hat gute Zensuren.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, sagt Talih Seval Tuncer. Und bei manchen sei die Tasche eben schwerer als bei anderen. Sie habe gelernt, sich auf die guten Seiten des Lebens zu fokussieren: „Man kann vieles im Gehirn beeinflussen.“
„Die Kraft des Loslassens“ kostet 18 (Softcover) bzw. 25 Euro (Hardcover). Man kann es auf www.sevaltuncer.de oder bei Buchhandlungen wie Thalia oder Hugendubel bestellen.
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