Essen. Die Kleinen in den Notaufnahmen des Kinderschutzbundes Essen brauchen wieder Unterstützung. Die 18. NRZ-Spendenaktion für die „Spatzen“ startet.

Angeblich ist es Ausschlag. Doch als Rechtsmediziner die Flecken, die sie am Körper des kleinen Carlos finden, näher in Augenschein nehmen, werden nicht nur die Leiden des Jungen sichtbar, sondern auch die perfiden Lügen seiner Mutter entlarvt. Es sind beileibe keine Hautirritationen, sondern zahlreiche Wunden, die sie ihrem eigenen Sohn mutmaßlich über Jahre beigebracht hat.

Zurück blieben dutzende äußere und unzählbare innere Narben an Leib und Seele, die zusammen eins sind: Zeugnis einer brutalen Erziehungsmethode. Unterwirft sich das Kind nicht dem Willen seiner Mama, drückt sie glimmende Zigaretten an ihm aus. Immer und immer wieder, bis die Verletzungen im Kindergarten auffallen, Carlos in Obhut genommen wird und schließlich im „Spatzennest“, in einer der zwei Notaufnahmen des örtlichen Kinderschutzbundes landet.

So wie 46 weitere misshandelte, missbrauchte oder vernachlässigte Jungen und Mädchen, die der Kinderschutzbund Essen allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres im „Spatzennest“ in Altenessen und der Einrichtung „Kleine Spatzen“ für die Jüngsten in Borbeck neu aufgenommen hat. Der Bedarf an Plätzen ist jedoch um ein Vielfaches höher, als es die Zahl der Bewohner vermuten lässt.

316 Kinder in Not mussten abgelehnt werden

Bis September dieses Jahres gab es 362 Anfragen nach einem der 26 Schutzplätze. 316 der Kleinen mussten abgelehnt werden, weil es an Kapazitäten fehlte. Sie wurden auf Einrichtungen in ganz NRW verteilt. Diese Zahlen markieren einen neuen traurigen Rekord. Im Durchschnitt war etwa jedes dritte aufgenommene Kind in den beiden Notaufnahmen jünger als sechs Jahre.

Inzwischen lacht die Realität in den Häusern ihrer ursprünglichen Konzeption Hohn: Mehr als jedes dritte Kind lebt länger als ein halbes Jahr dort. Sorgerechts- und Strafverfahren sowie fehlende adäquate Anschluss-Unterbringungen führen zu einer Verweildauer, die nicht nur schlecht für die Entwicklung der Kleinen ist, sondern auch die eh schon raren Schutzplätze, die eigentlich allein für akute Krisensituationen gedacht sind, zusätzlich für einen zu langen Zeitraum blockiert.

Der Kinderschutzbund will diesen Teufelskreis aus Daueraufenthalten mangels alternativer Betreuungsmöglichkeiten etwa in Pflegefamilien auf der einen Seite und den immer komplexeren psychischen und physischen Problemen der Kleinen durch dramatisch zunehmende Gewalt auf der anderen Seite durchbrechen: Eine weitere, die dann dritte Einrichtung in Essen, ist deshalb in Planung, ein neues Schutzhaus für besonders belastete Kinder, um so die beiden bestehenden Häuser, die nicht ohne Grund Notaufnahmen heißen, entlasten zu können.

Sozialarbeiterin Martina Heuer und Ulrich Spie, Vorsitzender des Kinderschutzbunds Essen, haben ein neues Schutzhaus im Blick, das die beiden bestehenden Notaufnahmen entlasten soll.
Sozialarbeiterin Martina Heuer und Ulrich Spie, Vorsitzender des Kinderschutzbunds Essen, haben ein neues Schutzhaus im Blick, das die beiden bestehenden Notaufnahmen entlasten soll. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Das neue Schutzhaus kostet rund 4,5 Millionen Euro

Dafür ist allerdings noch einiges zu stemmen: Das Investitionsvolumen für das Neubauprojekt in Altenessen liegt bei rund 4,5 Millionen Euro. Während der laufende Betrieb über Pflegesätze finanziert wird, muss der Kinderschutzbund Essen die Kosten für Bau und Einrichtung sowie die Gestaltung des Außengeländes vollständig aus Eigenmitteln und Spenden übernehmen. Rund 500.000 Euro sind bislang zusammengekommen, weiß Ulrich Spie, Vorsitzender des Kinderschutzbundes in Essen, den pünktlich zum 1. Advent ein vorweihnachtliches Wunder ereilte.

Die Bethe-Stiftung hat zugesagt, den Bau des neuen Kinderschutzhauses mit einer besonderen Aktion großzügig zu unterstützen. Alle Einzelspenden bis 3000 Euro zugunsten des Projekts werden bis zu einer Gesamthöhe von 100.000 Euro verdoppelt. Ziel ist es, so insgesamt 200.000 Euro zu akquirieren. Das Angebot der Stiftung ist eine einmalige Chance für den gemeinnützigen Verein: „Wer jetzt spendet, unterstützt das Neubauprojekt Kinderschutzhaus doppelt. Jede noch so kleine Spende hilft“, weiß Ulrich Spie.

Der Erfolg der NRZ-Weihnachtsaktion ist also wichtiger denn je in Zeiten, in denen die Inflation die Sach- wie die Personalkosten den stagnierenden Pflegesätzen davongaloppieren lässt und die Kostenentwicklung für den Kinderschutzbund insgesamt erschreckend ist. Es geht ans Eingemachte. „Wir haben keinerlei Einsparpotenziale mehr“, sagt Spie: „Die Windel umdrehen, ist nicht.“

Die Bethe-Stiftung will die Spenden verdoppeln

Sollte vor diesem Hintergrund die Rechnung mit der Bethe-Stiftung aufgehen, wäre der Kinderschutzbund seinem Ziel ein weiteres Stück näher, 16 zusätzliche Plätze in zwei Gruppen für Zwei- bis Zehnjährige zu schaffen. Die Kapazitäten werden den tatsächlichen Bedarf natürlich nicht decken können, aber dennoch weitere wichtige Bausteine zum Schutz des Kindeswohls in Essen sein, das zu oft unter die Räder gerät.

Stadtweit sind die Dimensionen gewaltig, die Wahrheit dahinter ist bitter: Die Inobhutnahmen aufgrund von Missbrauch, Misshandlung oder Verwahrlosung summierten sich in 2022 auf 716, das waren noch einmal sechs Prozent mehr als im Jahr davor. Rechnet man den Anteil der jungen unbegleiteten Flüchtlinge heraus, deren Zahl ebenso gestiegen ist, bleiben unterm Strich 450 Fälle von Gewalt und Missbrauch allein in Essen. In Deutschland wird mittlerweile alle 13 Minuten ein Kind in Obhut genommen.

Umso mehr ist nun in den Notaufnahmen Zeit für besondere Nestwärme. Die Weihnacht steht alle Jahre wieder auch in den Schutzhäusern für Nächstenliebe und ist Anlass genug, jenen Gutes zu tun, denen das Leben, kaum dass es begonnen hat, auf das Übelste mitspielt. Einige der „Spatzen“ in den Notaufnahmen werden in diesem Jahr zum ersten Mal ein Fest ohne Frust, einen Heiligabend ohne Heulen, eine Weihnacht zum Wohlfühlen und mit Präsenten erleben, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, den kleinen Bewohnern der Notaufnahmen einmal mehr schenken können.

In jedem Präsent findet sich ein Selbstwertgefühl

Der Kinderschutzbund ist noch heute begeistert von der Spendenbereitschaft bei der NRZ-Weihnachtsaktion des vergangenen Jahres: Mehr als 300 liebevoll verpackte Geschenke und 20.500 Euro an Spenden sind für das „Spatzennest“ in Altenessen und das Borbecker Haus „Kleine Spatzen“, in dem die Jüngsten Zuflucht finden, zusammengekommen.

In jedem Präsent, das dort ein Fest feiert, findet sich ein neues Selbstwertgefühl, schon die Kleinsten sind stolz, wenn sie einfach mal etwas Neues zum Anziehen besitzen, ein eigenes Kuscheltier in den Arm nehmen können, wissend, „das ist jetzt meins“, sagt Martina Heuer vom Kinderschutzbund: „Es ist für die Kinder ein wichtiges Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen.“ So finden sie etwas Frieden - so wie Carlos, der dank einer engen Begleitung in der Altenessener Notaufnahme gelernt hat, mit seiner Wut auf die Welt umzugehen. Er lässt sie raus, beim wilden Toben im Wald oder auf der Halde, er fühlt, das „Spatzennest“ hält ihn - und er will sich auf Weihnachten freuen, zum allerersten Mal.

Die Spendenbereitschaft der Leserinnen und Leser ist jedes Jahr aufs Neue enorm.
Die Spendenbereitschaft der Leserinnen und Leser ist jedes Jahr aufs Neue enorm. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Was die Spatzenkinder in diesem Jahr benötigen

Zum mittlerweile 18. Mal unterstützt die NRZ-Stadtredaktion Essen mit ihrer alljährlichen Weihnachtsaktion das „Spatzennest“ und das Haus „Kleine Spatzen“, die Notaufnahmen des Kinderschutzbundes in Altenessen und Borbeck. Auch in diesem Jahr bitten wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, um Ihre Mithilfe für die Jüngsten in Not. Gemeinsam mit den Mitarbeitern des Kinderschutzbundes haben wir einen Wunschzettel mit den Dingen zusammengestellt, die in diesem Jahr dringend benötigt werden:

·        Lego Duplo

·        Playmobil

·        Playmobil 123

·        Kleidung für Jungen und Mädchen Größe 98 - 140

·        Matschsachen Größe 110-128

·        Schwimmwesten / Schwimmflügel / Taucherbrillen

·        Badewannenspielzeug

·        Badezusätze

·        Haarspangen / Haargummis / Haarbürsten

·        Puppen und Zubehör (Baby Born) / Kuscheltiere / Schlafotter

·        Puppenwagen

·        Gesellschaftsspiele (Mensch ärgere dich nicht etc.)

·        CD-Player

·        Puzzle für Kinder von 6 bis 10 Jahren

·        Sandspielzeug

·        Bälle, Straßenmalkreide etc.

·        Knete

·        Fußbälle

Ihre Spenden können Sie vom 2. Dezember bis einschließlich 20. Dezember am FUNKE-Empfang im Foyer des Medienhauses, Jakob-Funke-Platz 1, in der Essener Innenstadt abgeben: montags bis freitags von 7 bis 17 Uhr. Zu Weihnachten wäre es schön, wenn Ihre verpackten Geschenke neuwertig wären. Ein kleines Inhaltsschildchen an den Päckchen ist hilfreich bei der Bescherung an Heiligabend. Wenn Sie lieber Geld - auch für den Bau des neuen Schutzhauses - spenden möchten, ist auch das möglich bei der Sparkasse Essen, BLZ: 360 501 05, Konto: 290 700, IBAN DE70 3605 0105 0000 2907 00, Empfänger: Kinderschutzbund Essen.

Vermerken Sie bitte den Verwendungszweck „Spatzennest/NRZ-Aktion“, wenn Sie die beiden bestehenden Häuser unterstützen möchten, oder wählen Sie „Verdoppelung Schutzhaus/NRZ“, wenn Ihr Geld dem Neubauprojekt zugutekommen und die Bethe-Stiftung Ihre Spendensumme verdoppeln soll. Auf Wunsch stellt der Kinderschutzbund Spendenquittungen aus. Nähere Infos dazu gibt’s bei dem gemeinnützigen Verein unter der Rufnummer 0201/49 550 755.

Die Bethe-Stiftung ist 1996 von Roswitha und Erich Bethe ins Leben gerufen worden. Einer ihrer Förderschwerpunkte sind Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Missbrauch schützen.