Essen-Steele. Oberstufenschüler von Erich-Kästner-Gesamtschule, Gymnasium Wolfskuhle und Carl-Humann-Gymnasium in Essen erinnern an Verbrechen des NS-Regimes.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Sie brannten im Ruhrgebiet, sie brannten im gesamten Deutschen Reich. Auch die Steeler Synagoge am Isinger Tor brannte. Nun stehen Menschen in stillem Gedenken auf den Umrissen des vor 86 Jahren zerstörten Gotteshauses und legen weiße Rosen nieder. Auf der Bühne am Kaiser-Otto-Platz mahnt eine Gedenkveranstaltung mit den Worten des italienischen KZ-Überlebenden Primo Levi: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“
Zusammen mit Schülern der Erich-Kästner-Gesamtschule (EKG), des Gymnasiums Wolfskuhle und des Carl-Humann-Gymnasiums sowie dem Runden Tisch Steele hat Annette Nowak-Reeves, ehemalige EKG-Lehrerin, die Gedenkveranstaltung organisiert: „Manche mögen am Abend des 8. November etwas geahnt haben, denn Anzeichen hatte es gegeben.“ Doch die meisten Juden seien völlig ahnungslos gewesen, was ihnen droht.
Essener Schüler sprechen auch über die Gewaltspirale im Nahen Osten
Das Signal zum größten Genozid der Geschichte, so Nowak-Reeves: „Juden, auch aus Steele, wurden entrechtet, deportiert und ermordet. Der Völkermord an sechs Millionen Juden ist uns besondere Verantwortung, dass Juden hier in Deutschland sicher leben können. Die furchtbaren Taten in Nahost berühren auch uns. Gefangen in einer schrecklichen Gewaltspirale, losgetreten vom Überfall der Hamas, leben Juden auch in Deutschland in Angst.“
Oberstufenschüler legen eindringlich Zeugnis ab. Sie erinnern daran, wie das Deutsche Reich mit immer schärferen Gesetzen und Verordnungen „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ den Juden Freiheit und Würde nahm. Sie mussten Judensterne tragen, den Zweitnamen Israel oder Sara annehmen, es gab Berufsverbote, jüdischen Schülern wurde der Besuch „deutscher“ Schulen untersagt.
Die jungen Menschen sprechen davon, wie ein Besuch in Auschwitz und Birkenau sie aufwühlte. Was das für ein Gefühl war, die Berge von Koffern, Kleidung, Brillen, menschlichem Haar derjenigen zu sehen, die dort ermordet wurden. Erschüttert notierten sie ihre Gedanken: „Alles ist angsteinflößend und schrecklich.“ Die Worte einer jungen Frau hallen nach: „Es liegt wieder Hass in der Luft.“ Umso wichtiger sei ein lautes „Nie wieder“.
Jugendliche aus Essen wollen verhindern, dass die Verbrechen der NS-Zeit vergessen werden
Was bewegt junge Menschen von heute, so weit zurück zu blicken? Der 16-jährige Benjamin möchte gegen das Vergessen angehen: „Weil es sich immer wiederholen kann. Man sieht heute doch deutliche Parallelen.“ Was die gleichaltrige Mara noch unterstreicht: „Es wäre nicht gut, wenn die Taten in Vergessenheit geraten würden.“ Man könne zukünftige Verbrechen nur verhindern, wenn man die Vergangenheit kenne: „Die NS-Zeit war ausschlaggebend für unsere Geschichte.“
Fadime ist 19 Jahre alt und erschrocken über Hass und Gewalt: „Es ist lange her, aber man sieht täglich in den Nachrichten und auf Social Media, dass es leider noch aktuell ist. Das ist unmenschlich. Allen Menschen sollte es gutgehen.“ Der zwei Jahre jüngere Tim sieht gefährliche Tendenzen: „Die Verbrechen der NS-Zeit werden verharmlost. Wir müssen die Manipulationen und die Apparate dahinter verstehen. Deshalb ist es so wichtig, immer wieder auf die Pogromnacht hinzuweisen.“
Die 19-jährige Hiba sieht den moralischen Auftrag: „Der 9. November ist relevant, für unsere Gesellschaft, für die ganze Welt. Man sollte nie vergessen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.“ Sienna-Norena (18) sagt: „Grausame Taten wurden verübt. Das darf nicht noch einmal passieren.“
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Auf der Bühne verlesen Fadime, Hiba und Sienna-Norena einen Zeitzeugenbericht der 1919 geborenen Edith Neumark. Sie lebte mit ihren Eltern Paula und Kurt in der Bochumer Straße 25. Der Vater war Vertreter und die Mutter betrieb das „Peka“ Putzmachergeschäft. Edith Neumark, nun in den USA und verheiratete Tenn, erinnerte sich 1988 an die schreckliche Nacht: „Wir hörten draußen großen Lärm. Die Nazis zerschlugen die Fenster unseres Ladens und die der anderen Juden. Sie warfen Waren auf die Straße. Sie hämmerten an die Tür unserer Wohnung und nahmen meinen Vater mit.“
Essener erinnern an die verschleppten und ermordeten jüdischen Mitbürger
Ihre Mutter sei völlig außer Fassung gewesen: „Mein Vater war vier Jahre im Ersten Weltkrieg gewesen und hatte für Deutschland gekämpft.“ Doch als Paula Neumark bei der Polizei um Freilassung ihres Mannes bat, wurde sie schroff abgewiesen, so die Tochter: „Sie nahm alle seine Orden, einschließlich des Eisernen Kreuzes, um sie ihnen zu zeigen. Als wir dorthin kamen, lachten sie uns aus.“
Kurt Neumark wurde im KZ Dachau interniert. Als er zurückkehrte, wollte er nicht erzählen, was ihm dort passiert war. 1939 konnte Edith mit ihren Geschwistern Ruth und Hans ins Ausland fliehen. Die Eltern Paula und Kurt mussten zunächst in ein „Judenhaus“ ziehen, wurden am 22. April 1942 ins Ghetto Izbica deportiert und ermordet.
In der Menge steht Léon Finger vom Initiativkreis City Steele und schweigt betroffen. Nachdem er sich gefangen hat, sagt er: „Gut, dass man in dieser Form gedenkt. Die Erinnerung an die Novemberpogrome gehört zu unserem Steeler Weihnachtsmarkt.“ Annette Nowak-Reeves ist beeindruckt davon, wie sich die jungen Menschen mit der Thematik der absoluten Entwürdigung der Juden auseinandergesetzt haben: „Viele der Schüler in Steele und Umgebung haben einen Migrationshintergrund und sind Anfeindungen ausgesetzt.“
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