Essen. Kaum war die Ankündigung des Bundeskanzlers für eine Vertrauensfrage in der Welt, setzte die Stadt ihre Wahl-Maschinerie in Gang.
Der frühe Vogel fängt bekanntlich den Wurm, und so sind es die Marxisten-Leninisten der MLPD, die in Essen für sich in Anspruch nehmen dürfen, als erste Partei für die heraufziehende Bundestagswahl auf der Matte zu stehen: Die Berliner Polit-Ampel war noch nicht einmal 24 Stunden lang ausgeknipst, da hatte die Linksaußen-Gruppierung im Wahlamt am Kopstadtplatz bereits ihre Kandidaten-Vorschläge eingereicht. Es ist an diesem neblig-kühlen Novembertag der unerwartete Kaltstart für ein Unterfangen, bei dem die Stadt ihre Maschinerie gut sechs Monate früher anwerfen muss als geplant.
Vieles bei den Vorbereitungen bleibt im Unklaren, solange der Wahltermin noch nicht feststeht
Über 3000 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer finden, 309 Wahlräume sichern, dazu, wenn‘s geht, eine Messehalle für die Auszählung der Briefwahl-Stimmen und eine Druckerei für die Stimmzettel ausfindig machen – Guido Mackowiak, Wahlexperte im städtischem Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen, weiß, was zu tun ist. Obwohl dieser Urnengang nach einer absehbar scheiternden Vertrauensfrage des Bundeskanzlers auch für ihn Neuland bedeutet.
Gelten die üblichen Einreichungs-Termine? Oder gibt es Sonderreglungen wie damals während der Corona-Pandemie, als Fristen verkürzt und die Zahl der erforderlichen Unterstützer-Unterschriften eingedampft wurden? Vieles wird in diesen Tagen losgetreten, noch mehr aber bleibt im Unklaren, solange der Wahltermin noch nicht feststeht. Denn erst von diesem Tag an wird dann zurückgerechnet: 69 Tage zuvor müssen die Wahlvorschläge vorliegen, spätestens 58 Tage vorher der lokale Essener Wahlausschuss tagen, am 42. Tag vor dem Termin das Wählerverzeichnis aufgestellt, 35 Tage zuvor die Wahlbenachrichtigungen verschickt werden.
Essens OB Thomas Kufen: „Mit wem soll ich über eine Regelung für die Altschulden verhandeln?“
Ob das alles eine sehr viel frühere Wahl als im März möglich macht, scheint doch sehr die Frage, denn die ausgerufenenen Neuwahlen zum 21. Deutschen Bundestag erwischen manche Partei auf dem völlig falschen Fuß: Anders als CDU und SPD haben etwa Grüne und FDP, AfD, Linke und BSW ihre Kandidaten noch gar nicht gewählt. Auch da sind Fristen zu beachten, und freie Tagungssäle im Advent sind rar gesät. Ohne Kandidaten gibt es aber logischerweise keine Listenaufstellung, jetzt soll es überall schneller gehen.
Derweil pendelt die Essener Kommentierung der Berliner Geschehnisse irgendwo zwischen Empörung und Erleichterung, je nach Parteibuch. Für Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) etwa war das Aus für die Ampel „nicht mehr abzuwenden: Dieser Regierung weint keiner eine Träne nach.“ Und doch macht sich das Stadtoberhaupt Sorgen – über den so ziemlich „schlechtesten Zeitpunkt, an dem eine deutsche Regierung ohne Mehrheit im Parlament dasteht“. Die Herausforderungen seien immens, international, aber auch national: „Mit wem soll ich über eine Regelung für die Altschulden verhandeln?“
Froh übers Ampel-Aus? „Man ist nie glücklich, wenn etwas nicht funktioniert“, sagt SPD-Chef Frank Müller
Weniger erschrocken, eher „erleichtert“ schaut Frank Müller, Parteichef der Essener SPD, auf das Ende der zerrütteten „Fortschritts-Koalition“: Froh? Nein, froh ist er nicht. „Man ist nie glücklich, wenn etwas nicht funktioniert.“ Das politische Auseinanderdriften war für ihn am Ende folgerichtig, „wenn es um den Markenkern des jeweils anderen geht“. Den Zeitplan von Bundeskanzler Olaf Scholz hält er für „nachvollziehbar und plausibel“, die Debatte über eine mögliche Auswechslung dagegen für „künstlich konstruiert“, und ein Lob bekommt der Kanzler auch ab: „Anders als bei früheren Gelegenheiten haben wir diesmal nicht kopflos reagiert.“
„Froh, dass das Gewürge zu Ende ist“, zeigt sich Mehrdad Mostofizadeh, Vorstandssprecher der Essener Grünen, auch wenn ihm im Nachhinein das öffentlich zelebrierte Bündnis-Beben nicht unausweichlich schien: „Man hätte das nach den reichlich vorhandenen Angeboten, Brücken zu bauen, wie erwachsene Menschen regeln können, in Würde und konstruktiv.“
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Aber so war es halt ein gefundenes Fressen für die CDU, die nach drei Jahren Dauerstreit in der Ampelregierung nun gern Neuwahlen so früh wie möglich hätte, „statt einer Hängepartie: Die machen wir nicht mit“, betont Matthias Hauer, CDU-Vorsitzender in Essen und Bundestagsabgeordneter. Ihn stört vor allem ein absehbarere monatelanger Stillstand, dabei „muss sich schnell etwas ändern. Wir brauchen Stabilität in Europa.“
Witzels vernichtendes Urteil über Ex-Parteifreund Volker Wissing: „Der Gipfel der Charakterlosigkeit“
Wer wollte da widersprechen? Essens FDP-Chef, der Landtagsabgeordnete Ralf Witzel jedenfalls nicht, der von sich sagt, er habe die erneute Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten für unwahrscheinlicher gehalten als den Bruch der Ampel-Koalition. Fest eingeplant war da nichts, ablesbar vielleicht auch an dem ursprünglichen Plan der hiesigen Liberalen, ihre Bundestagskandidaten erst im Frühjahr zu nominieren. Das wird man vorziehen, froh darüber, dass eine schwierige Lage geklärt scheint, „auch wenn das kein Anlass ist, an dem man jubelt“, so Witzel. Die harte Kritik des Kanzlers für Finanzminister Lindner, findet er „in dieser Drastik überzogen“, für Ex-Parteifreund Volker Wissing, der Minister bleibt, hat Witzel allerdings auch ein vernichtendes Urteil übrig: „Der Gipfel der Charakterlosigkeit.“
Essens AfD-Chef Günter Weiß attestiert Wissing dagegen Rückgrat. Seine Partei gibt sich überrascht vom Aus für die Ampel, für das Bündnis Sahra Wagenknecht kommt es womöglich regelrecht zur Unzeit: Die Partei zählt in Essen bislang nicht einmal ein Dutzend Mitglieder, aber Ezgi Güyildar, einst Ratsfrau der Linken, zeigt sich zuversichtlich, die Kandidatenkür hinzubekommen. Dass es nach der Ampel links rum geht und der Zulauf am rechten Rand nicht zunimmt, darauf setzt auch Wolfgang Freye von der Linkspartei.
Die Freien Demokraten verlor in drei Ampel-Jahren 30 Prozent ihrer Mitglieder
Immerhin, seine Partei bewege sich stabil bei rund 330 Mitgliedern, das sind etwa so viele wie die Freien Demokraten in Essen derzeit verzeichnen. Die FDP allerdings lag, als die Ampelregierung erstmals ins Land leuchtete, bei etwa 460 Mitgliedern. Man habe, bekennt Ralf Witzel, mehrere Dutzend Mitglieder pro Ampel-Jahr verloren, ein Minus von knapp 30 Prozent binnen drei Jahren.
Da brennt irgendwann selbst die stärkste Signalleuchte durch.
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