Essen-Bredeney. Tradition trifft Präzision: Wermter in Bredeney schneidert seit Generationen nach Maß. Das 100-jährige Bestehen hat die Familie fest im Blick.

Seit 90 Jahren dreht sich im Familienbetrieb Wermter alles um feine Stoffe, korrekte Maße und perfekten Sitz. Herrenschneider ist ein Beruf mit Tradition – wird aber immer mehr zum Nischenangebot.

Ein paar Stufen führen hinauf ins Ladenlokal an der Bredeneyer Straße 91. Fein säuberlich sind sie da aufgereiht: zahlreiche Stoffe und Sakkos, meist in gesetzteren Farben wie Schwarz, Anthrazit, Dunkelblau, aber auch ein paar außergewöhnliche hellere Farbtöne wie Beige oder Grün stechen hervor. Hinzu kommen Schuhe, Krawatten, Hosenträger, sogar Socken. Diese letzte Kategorie stellt der Bredeneyer Herrenschneider nicht selbst her. „All das gehört aber einfach dazu, wenn man ein Outfit komplettieren möchte“, erklärt Stefan Wermter, der das Geschäft in dritter Generation führt.

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Dritte Generation, das bedeutet: 90 Jahre Erfahrung. Die Ursprünge des Familien-Business‘ liegen in Ostpreußen: Es war der Großvater Aloys, der sich 1934 in Heilsberg als Schneider selbstständig machte. Allerdings nur wenige Jahre: 1939 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und geriet schließlich in polnische Gefangenschaft. Auch der Rest der Familie erlebte die Wirren des Krieges hautnah.

1944, als die sowjetische Armee näher rückte und man bereits die Kanonen donnern hörte, packte Aloys’ Frau das Nötigste, und die Familie floh über das Haff. In Kalsow, einem kleinen Dorf bei Wismar, fanden sie vorerst Zuflucht. „Wir bekamen ein Zimmer mit 16 Quadratmetern“, erinnert sich Joachim Wermter, der 1939 geboren worden war. „Vier Jahre lang lebten wir dort zu viert, ohne eigene Toilette, draußen gab es ein altes Plumpsklo.“

Neuanfang nach dem Krieg in Essen-Bredeney

Schließlich kehrte der Vater „wohlgenährt“, wie Joachim Wermter es bezeichnet, aus der Gefangenschaft zurück. Seine Fähigkeiten als Schneider hatten ihm geholfen, sich durchzuschlagen. „Er hatte Kleider für die Frauen der Kommandantur genäht, was ihm gutes Essen und Schutz sicherte“, erzählt der Sohn weiter. Die Mutter entschied schließlich, dass ein Leben in der sowjetisch besetzten Zone keine Zukunft bot. Der Weg führte 1950 nach Essen, wo ihre Familie lebte.

Der Cutaway ist der vornehmste formelle Anzug für den Tag und wird heute meist als Hochzeitsanzug getragen.
Der Cutaway ist der vornehmste formelle Anzug für den Tag und wird heute meist als Hochzeitsanzug getragen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein Umzug, der neue Chancen bot. „Nach den schwierigen Jahren in Kalsow war es fast ein Luxus, als wir in Essen in eine größere Wohnung zogen. Wir hatten plötzlich 16 Quadratmeter pro Raum, statt für die ganze Familie.“ Auch wenn das Ruhrgebiet mit seiner Industrie und den Dunstwolken verglichen mit den Weiten Ostpreußens alles andere als idyllisch war, bot es den Wermters die Möglichkeit eines Neuanfangs.

Aloys Wermter wollte nach der Kriegsgefangenschaft eigentlich nicht mehr in die Schneiderei zurückkehren. Doch der Mangel an Anstellungsmöglichkeiten zwang ihn, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Im Wohnzimmer seines Bruders richtete er sich eine kleine Schneiderei ein und gewann durch Mundpropaganda die ersten Kunden. „Es begann klein, aber es wuchs kontinuierlich“, erzählt sein Sohn Joachim Wermter. Der Erfolg ermöglichte der Familie schließlich, eine Wohnung mit separater Werkstatt zu beziehen – und schließlich sogar ein erstes kleines Ladenlokal in einem Souterrain. „Wenn zwei Kunden im Laden waren, ging die Tür nicht mehr zu.“

Auch Brautkleider werden bei Wermter bearbeitet

Es war die Idee von Joachim Wermter, die Schneiderei nach Bredeney zu verlegen, um eine breitere Kundschaft zu erreichen. „Mein Vater blieb noch ein Jahr im alten Laden. Doch dann kam der Moment, in dem ich ihn überzeugen konnte, hierher zu ziehen. Es war die Chance, die wir ergreifen mussten.“ Und eine Idee, die aufging. Sogar bis zur dritten Generation.

Zwar zeigte Stefan Wermter nicht sofort Begeisterung für den Beruf, doch: „Ich habe ihn überredet, das Schneiderhandwerk zu erlernen. Aber ich wollte nicht, dass er bei mir ausgebildet wird“, erklärt Joachim Wermter. „Es ist wichtig, dass der Lernprozess unabhängig ist.“ Stefan Wermter absolvierte seine Ausbildung bei einem Kollegen und vertiefte sein Wissen in verschiedenen Städten, bevor er schließlich in den Familienbetrieb einstieg.

Hosenträger passend zur Fliege: Auf die Details kommt es an - besonders beim Hochzeitsanzug.
Hosenträger passend zur Fliege: Auf die Details kommt es an - besonders beim Hochzeitsanzug. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Auch dieser Generationswechsel brachte neue Herausforderungen mit sich, insbesondere die Veränderung des Marktes und die wachsende Konkurrenz durch industrielle Maßanfertigungen. „Früher haben wir noch viele Anzüge komplett selbst genäht, aber heute hat die industrielle Fertigung enorm aufgeholt“, sagt der Enkel der Gründers.

Diese Veränderung habe das Geschäft grundlegend beeinflusst. Während in der Zeit seines Vaters noch mehrere Auszubildende gleichzeitig im Betrieb arbeiteten, bildet das Bredeneyer Unternehmen seit der Pandemie wegen der industriellen Fertigung nicht mehr aus, denn: „Mittlerweile nähe ich vielleicht nur noch ein oder zwei Anzüge im Jahr komplett selbst.“

Maßanzüge aus Essen-Bredeney

Was macht einen Maßanzug eigentlich aus? Stefan Wermter bringt es auf den Punkt: „Es ist nicht nur der Stoff, sondern die Fähigkeit, die Figur des Kunden richtig einzuschätzen.“ Denn selbst bei „komplexen Körperformen“ soll ein Anzug richtig sitzen. Durch jahrelange Erfahrung und fundierte Anatomiekenntnisse erkennt der Meister „individuelle Wuchsabweichungen“ wie Hängeschultern oder einen Bauchansatz und nimmt genau Maß. Vollmaß nennt man das. Da zieht der Kunde das sogenannte Schlupfteil über, das an den Körper angepasst und anschließend nach Wunsch konfiguriert wird. Kunden können aus einer Vielzahl an Stoffen, Knöpfen und Futtern wählen.

Die Maßschneiderei Wermter befindet sich im Zentrum Bredeneys, an der Kreuzung Bredeneyer/Frankenstraße.
Die Maßschneiderei Wermter befindet sich im Zentrum Bredeneys, an der Kreuzung Bredeneyer/Frankenstraße. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Mit 3500 bis 4000 Euro, wie der Meister vorrechnet, ist man bei einem Vollmaßanzug dabei. Mit 1000 bis etwa 1200 Euro ist die Maßkonfektion günstiger. Dabei schickt der Schneider die Maße des Kunden an eine Firma, die den Anzug industriell fertigt. Es gehe dabei nicht nur um das fertige Kleidungsstück, sondern auch um das Erlebnis, Teil des Entstehungsprozesses zu sein, versichert Joachim Wermter. „Viele unserer Kunden schätzen es, dass sie ein echtes Unikat tragen.“

Neben der Maßanfertigung von Anzügen für Standardgrößen sind es gerade die anspruchsvolleren Aufträge, die die Schneider reizen. „Wir hatten mal einen Kunden, der über zwei Zentner wog und einen Frack brauchte“, erinnert sich Stefan Wermter. „Das war eine echte Herausforderung, aber wir haben es geschafft. Der Frack saß und sah gut aus.“ Die Liebe zum Detail und die Fähigkeit, auch untypische Figuren perfekt einzukleiden, mache gute Schneiderei aus. „Bei uns hat jeder Kunde die gleiche Stoffauswahl, unabhängig von seiner Figur.“

Stefan Wermter mit edlem Anzugstoff: Bei der Maßschneiderei kommt es auf Details an.
Stefan Wermter mit edlem Anzugstoff: Bei der Maßschneiderei kommt es auf Details an. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Neben der Maßanfertigung bietet die Schneiderei auch umfassende Dienstleistungen wie die Änderung von Brautkleidern und Anzügen sowie die Pflege und Reparatur von Kleidung an. „Viele Brautmodengeschäfte verweisen ihre Kunden an uns, wenn es um Änderungen geht“, berichtet Stefan Wermter stolz. Trotz der Herausforderungen durch die Pandemie und den Online-Handel blickt er optimistisch in die Zukunft. „Die Leute wollen sich wieder schick machen. Hochzeiten finden wieder statt, und die Gäste wollen gut gekleidet sein. Wir hatten im vergangenen Jahr viel zu tun.“

Stolz auf lange Familientradition

Hinter allem steckt dabei aber immer auch der Stolz auf die lange Familientradition. „Es macht mir riesigen Spaß, diesen Beruf auszuüben“, sagt Stefan Wermter, „und ich bin froh, dass ich meinen Vater an meiner Seite habe, der mir mit seiner Erfahrung immer noch hilft“. Der Familienbetrieb ist für ihn nicht nur ein Geschäft, sondern eine Herzensangelegenheit, die auch in Zukunft bestehen soll. „Mein Vater hat zwei Ziele: beim 100. Geburtstag des Unternehmens dabei zu sein und mit meiner Tochter auf ihrer Hochzeit einen Walzer tanzen.“ Das Geschäft wird in diesen Tagen 90. Die Tochter zwölf.

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