Essen. Elke Heidenreich hat ein Buch übers Altern geschrieben. Warum Work-Life-Balance für sie keinen Sinn macht und Musil niemals ins Altpapier gehört.
Elke Heidenreich ist immer gerne schnell gefahren. Wenn es heute mal nicht so klappt mit dem Tempo, dann liegt das nicht am Alter, sondern an den ganzen Staus und Sperrungen, die die Fahrt von Köln nach Essen zur Lit.Ruhr an diesem Nachmittag auf drei Stunden gezogen haben. Das dämpft die Stimmung der Autorin. Also muss Bühnen- und Lebenspartner Marc-Aurel Floros am Flügel erst einmal für Aufmunterung sorgen.
Eine 81-jährige Frau, liiert mit einem fast 30 Jahre jüngeren Partner, auch das wird bei der Lit.Ruhr-Lesung noch Thema sein, die vom Alter handelt. Aber eigentlich vom Leben mit all seinen Facetten erzählt: vom Lieben und Lachen, vom Verlassen und Sterben, vom Bücher lesen und vom Umziehen.
Elke Heidenreich hat in ihrem Leben 23 Mal die Adresse gewechselt. Eigentlich wäre sie deshalb auch gerne als Fachfrau für das Thema Wohnen aufgetreten. Doch die in Essen aufgewachsene Autorin ist nun mal über 80 und der Hanser Berlin-Verlag war sich deshalb sicher: Du schreibst ein Buch übers Altern! Es wurde - ein Bestseller.
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Ob eine wie Elke Heidenreich eine typische Alte ist? Man will Zweifel anmelden, wie sie da munter Hof hält in der vollbesetzten Halle der Essener Zeche Zollverein. Die Augen werden zwar immer schlechter, und die Nachtruhe wird immer öfter gestört von düsteren Gedanken. Und doch heißt es morgens: „Weg damit und weiter atmen.“
Überhaupt, „die“ Alten gibt es ja nicht, mahnt die Bestsellerautorin. Es gibt die kranken und die fitten, die neugierigen und die unbeweglichen Alten. Heidenreich ist nach eigenen Angaben auf jeden Fall eine „glückliche Alte“. Und sie ist nicht die einzige Autorin, die über das Altsein nachgedacht hat. Ihr „Altern“-Essay ist deshalb voll von Zitaten bekannter Schriftsteller.
„Man mistet im Alter doch aus!“, sagt Elke Heidenreich in Essen
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Sie lacht mit Kafka, dem „alte Männer, die nackt über Heuhaufen springen“, nicht gefallen. Sie hadert mit Seneca, der das Alter „als eine unheilbare Krankheit“ bezeichnete. Und sie widerspricht Oscar Wilde, der das Alter als „Rumpelkammer des Lebens“ bezeichnete: „Man mistet im Alter doch aus“, sagt Heidenreich. Aber noch stapeln sich zu Hause Tausende von Büchern auf drei Etagen. Wem wird sie später einmal verständlich machen, „dass Nabokov und Musil nicht ins Altpapier gehören. Walser meinetwegen schon, aber nicht Robert, nur Martin“, so die streitbare Literaturkritikerin.
Die kleinen Spitzen weiß sie nach wie vor gezielt zu setzen. Manchmal gehen sie nicht gegen die von ihr wenig geschätzte Autoren, sondern zielen auf eine von ihr mit Skepsis betrachtete Lebensform. Man lebe nun mal in einer Zeit, in der „alle Depressionen, Lastenfahrräder und Gluten- oder Laktose-Intoleranz haben“, findet Heidenreich. „Aber das vergeht auch wieder.“
„Das Jungsein war schlimm. Da bin ich reingestolpert“
Sie selbst möchte die Altersuhr nicht mehr zurückdrehen. „Das Jungsein war schlimm, da bin ich reingestolpert“, sagt Heidenreich. Auf das Alter habe man sich vorbereiten können. Und das Leben sei im Alter schon gar nicht weniger wert. Freilich weiß auch sie von den Zipperlein des Alters. Die 31 Stufen zum Arbeitszimmer geht es nicht mehr so leicht hoch. Und auf all die rasanten Veränderungen in der Welt zu reagieren, fällt selbst einer wie ihr schwer, die so beweglich im Kopf ist, aber niemals wirklich Sport gemacht hat.
„Streit hat mich stets munter gehalten“, sagt Heidenreich. Manchmal klingt der Abend aber auch ein wenig nach Verteidigungsrede, wenn sie etwa auf den Vorwurf zu sprechen kommt, die Alten hätten auf Kosten der Generation Z gelebt und eine beschädigte Welt hinterlassen: zu viel geflogen, zu viel Plastikmüll verursacht, zu dicke Autos gefahren. „Aber wir haben auch etwas aufgebaut, was ihr nach unserm Tod erbt, und das ist nicht nur eine kaputte Welt. Schiebt uns Alten nicht die Schuld an allem zu“, fordert Heidenreich.
Elke Heidenreich: „Schiebt uns Alten nicht die Schuld an allem zu“
Überhaupt, Arbeit, die sei für sie nun mal ein zentraler, mittlerweile aber doch etwas in Verruf geratener Bestandteil des Lebens. „Work-Life-Balance, was soll das denn sein?“, fragt sich Heidenreich so manches Mal. Life sei nun mal Work. Und von der zweifelhaften Empfehlung, die Seele einfach baumeln zu lassen, solle man doch lieber Abstand nehmen. „Die hat man besser fest im Griff, da baumelt nichts“, mahnt die Autorin und weiß doch, wie wichtig es ist, im Alter loslassen zu können: „Der Countdown läuft, der Pfeil fliegt. Aber noch bin ich in der Arena.“
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