Essen. Patienten aus aller Welt kommen zur Behandlung einer seltenen Gefäßmissbildung nach Essen: Die bleibt oft unentdeckt, ist aber lebensbedrohlich.
Auf den ersten Blick sieht es aus wie in einer Galerie: In diesem OP-Vorraum des Alfried-Krupp-Krankenhauses in Essen hängen Fotografien von Wellen, eine Uhr als Kunstobjekt, der Raum ist in das Licht von Lavalampe und Ampelmännchen getaucht. Im OP läuft „Angiochill“, die Playlist hat Prof. Dr. René Chapot mit seinen Töchtern zusammengestellt. Auf den Kontrollbildschirmen neben den bunten Leuchten sieht man die Hände des Mediziners am Kopf eines Patienten. Ein cooler Arbeitsplatz. Und doch geht es hier oft genug um Leben und Tod.
Belgischer Arzt schickte seinen Patienten zur Behandlung nach Essen
Prof. Chapot ist Chefarzt für Neuroradiologie und behandelt Patienten aus aller Welt. Sie leiden an einer seltenen Gefäßmissbildung im Gehirn, die potenziell lebensbedrohlich ist, aber auch lebenslang ruhig bleiben kann. Die Abwägung, ob man die Krankheit namens AVM überhaupt behandelt, ist so schwierig wie die Behandlung selbst. Die nämlich kann tödlich ausgehen.
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Der 17 Jahre alte Louis aus dem belgischen Mechelen musste viermal zu der riskanten Behandlung nach Essen kommen. An einem Sommertag im Jahr 2024 läuft er, gestützt auf eine Gehhilfe, über den Klinikflur zu seinem Kontrolltermin bei Chapot. Seine Mutter Dominik Pauwels legt sanft ihre Hand auf die ihres Sohnes. „Ohne Prof. Chapot würde unser Louis nicht mehr leben“, sagt Vater Rudolf Van Roo. „Unser Arzt in Mechelen sagte, wenn Louis sein Sohn wäre, würde er ihn nicht selbst behandeln, sondern zu Prof. Chapot in Essen schicken.“ Ein Glücksfall.
Betroffene leben nach der Diagnose mit einer Zeitbombe im Kopf
Die Abkürzung AVM steht für Arteriovenöse Malformation: Diese Gefäßmissbildung im Hirn kann man sich wie ein unübersichtliches Knäuel vorstellen: Arterien und Venen, die sonst nur durch feine Kapillare verbunden sind, treffen in einem Nest (medizinisch Nidus) direkt aufeinander. Das kann sich je nach Größe und Lage durch starke Kopfschmerzen oder Krampfanfälle bemerkbar machen, deren Ursache oft erstmal nicht gefunden wird.
„Ohne Prof. Chapot würde unser Louis nicht mehr leben.“
Andere AVM bleiben unauffällig, werden nur per Zufall bei einer MRT des Kopfes entdeckt und bewusst nicht behandelt. Viele Patienten erleben sie dennoch als belastend – als eine Zeitbombe im Kopf. „Die Betroffenen sind oft gebrochene Menschen, weil sie mit vielen Einschränkungen leben“, sagt Prof. Chapot. Er hat einen Bundeswehrkampfpiloten behandelt, der nach einem Zufallsbefund nicht mehr fliegen durfte. Andere Betroffene dürfen nicht Autofahren oder bekommen von ihrer Bank keinen Kredit.
Komplizierte Gefäßfehlbildung
AVM (oder Angiome) sind die kompliziertesten Gefäßfehlbildungen des Nervensystems. Die Behandlung erfolgt entweder prophylaktisch oder nachdem schon Symptome wie Blutungen oder epileptische Anfälle aufgetreten sind. Es gibt drei Behandlungsmethoden:
- Neurochirurgische Entfernung der AVM
- Strahlentherapie
- Endovaskuläre (innerhalb des Gefäßes) Therapie mit Embolisation.
Über die optimale Therapie entscheiden Neuroradiologie, Neurologie, Neurochirurgie und Strahlentherapie.
Sicherheit und Erfolgsaussichten der Embolisation haben sich durch neue Materialien zuletzt verbessert. Da die OP riskant bleibt, werden Patienten eingehend beraten.
Denn AVM bergen ein großes Risiko: „Der Blutstrom im Nidus ist stark und schnell, es kommt zu einer erhöhten Belastung der Gefäße“, erklärt Chapot. „Die Gefäßwände erweitern sich durch diesen Druck und es bilden sich Aneurysmen.“ Platzt ein solches Aneurysma, treten Lähmungen, Sprach-, Seh- oder Gleichgewichtsstörungen auf, manche Patienten fallen ins Koma. Erleiden Betroffene eine Hirnblutung, besteht Lebensgefahr.
Louis musste als Notfall ins Krupp-Krankenhaus geflogen werden
Wenn also nur kleine Blutungen auftreten, muss über eine Behandlung nachgedacht werden. So wie bei Louis: Die Ärzte in seiner Heimat hatten die AVM diagnostiziert und zwei Blutungen entdeckt. „Die waren minimal, dem Jungen ging es gut“, sagt Chapot. „Es bestand aber das Risiko einer größeren Blutung.“
„Die Betroffenen sind oft gebrochene Menschen, weil sie mit vielen Einschränkungen leben.“
Dem Rat ihres Arztes folgend, hatten die besorgten Eltern daher im Frühjahr 2023 für Louis einen Termin in Essen vereinbart. „Doch vorher trat plötzlich eine so katastrophale Blutung auf, dass die Neurochirurgen in Belgien einen Teil des Schädelknochens entfernen mussten, um den Druck vom Hirn zu nehmen“, erzählt Prof. Chapot. Dann wurde Louis als Notfall nach Essen geflogen: „Wir wussten nicht, ob er das überlebt.“
Die Malformation liegt bei Louis so ungünstig, dass man sie nicht chirurgisch entfernen kann. Wegen ihrer Größe kam auch eine Bestrahlung nicht infrage, die bei kleineren AVM erfolgreich sein kann: „Das Gehirn verträgt nur eine bestimmte Strahlendosis.“
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Blieb die dritte Methode, die Embolisation: Über einen Katheter, der via Arterie – seltener über die Vene – geführt wird, gelangt man zu den fehlgebildeten Gefäßen und verschließt sie mit Kunststoff: So können sie nicht mehr platzen.
Meist braucht man mehrere Eingriffe, um alle betroffenen Gefäße zu schließen. „Wenn man dabei irrtümlich normales Gefäß verschließen würde, gäbe es einen Infarkt“, sagt Chapot. Die gut fünfstündige OP bereitet er daher vor, indem er sich intensiv mit dem Gefäß-Knäuel befasst. „Während der ersten zwei Stunden erstellen wir eine Karte aller Gefäße, um anschließend die Strategie der Behandlung zu bestimmen.“
Bis die AVM komplett verschlossen ist, zittert sich der Patient von Behandlung zu Behandlung. Am 7. Juni 2023 zeigten die Bilder von Louis’ Kopf, „dass die Malformation komplett ausgeschaltet ist“. Ein Jahr später wird diese Diagnose glücklicherweise bestätigt.
Mediziner freut sich über die Fortschritte seines Patienten Louis
Louis habe große Fortschritte gemacht, ihn stehen zu sehen, berührt auch seinen Arzt. Sein Krankheitsbild sei lebensbedrohlich gewesen, die Behandlung zwingend. In anderen Fällen müsse man sorgsam abwägen, ob man das Risiko eingehe: „Der Eingriff kann tödlich sein.“
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>>> ZUR PERSON: Prof. Dr. René Chapot
René Chapot wurde 1967 in Fontenay aux Roses in der Nähe von Paris geboren. Er studierte in der französischen Hauptstadt Medizin, spezialisierte sich auf Interventionelle Neuroradiologie.
Ursprünglich ist die Neuroradiologie eine bildgebende Disziplin. Sie setzt Verfahren wie Computertomografie, Röntgen, Angiografie, Ultraschall oder Magnetresonanztomografie ein. Jünger ist die Interventionelle Neuroradiologie, die therapeutisch eingreift: So wird bei einem Gefäßverschluss, wie er beim Schlaganfall auftritt, das Gefäß mithilfe von Kathetern wieder geöffnet, indem der Blutpfropfen herausgezogen oder zerstört wird.
Bei Blutungen im Hirn nutzt man wiederum gefäßverschließende (embolisierende) Methoden: Aneurysmen werden mit Platinmetallspiralen und Stents, Gefäßfehlbildungen werden mit flüssigem Kunststoff verschlossen. Alle Behandlungen finden unter Bildkontrolle statt.
Neuroradiologische Interventionen sind schonender als neurochirurgische Eingriffe und werden anstelle der offenen OP durchgeführt sowie in Fällen, in denen eine OP zu riskant wäre.
Mediziner nennt den Wechsel nach Essener eine Riesenchance
Chapot, der sich dem Arbeitsfeld früh verschrieben hat, ging 2003 als Professor für Neuroradiologie und als Klinikdirektor an die Uniklinik Limoges. Hier fand er ein gutes Forschungsumfeld und trieb die Entwicklung der Embolisation voran.
Vor 17 Jahren kam der Mediziner dann als Leiter der Klinik für Neuroradiologie ans Krupp-Krankenhaus in Rüttenscheid. Essen ist ein Zentrum der kleinen, hochspezialisierten Disziplin. René Chapot kann hier behandeln, forschen, lebenswichtige Fortschritte erzielen. „Es war eine Riesenchance“, sagt er.
Chapot hat eine deutsche Mutter, ist also zweisprachig. Schwieriger war es für seine Frau, deren Facharzt hier nicht anerkannt wurde; sie musste ihn nachmachen. Heute ist sie Oberärztin an der Uniklinik.
Neuroradiologe hat Patienten aus Schweden, Bosnien oder den USA
Zum Behandlungsspektrum der Klinik für Neuroradiologie am „Krupp“ gehören Aneurysmen und Schlaganfälle. Dass Patienten von weit her nach Essen reisen, liegt indes an Prof. Chapots herausragender Anwendung der Embolisation bei AVM: Der Mediziner ist dafür bekannt, arteriovenöse Malformationen zu behandeln, die andernorts als nicht behandelbar gelten.
AVM-Patienten aus Schweden, Bosnien oder den USA setzen auf Chapots Heilkunst. Er zeigt Fotos eines israelischen Mädchens, das an eine Wand gelehnt steht. Es sieht nach einer Kraftanstrengung aus – und ist ein Wunder: Das Kind hatte nach einer Hirnblutung ein Locked-In-Syndrom, war völlig bewegungslos. „Die Eltern wollten unbedingt, dass ihre Tochter behandelt wird.“ Trotz des Risikos, trotz der Kosten.
Japaner verkauft Wohnung, um Behandlung bezahlen zu können
Prof. Chapot erzählt von einem Japaner, der seine Wohnung verkaufte, um die Eingriffe für seine Frau zu bezahlen. Für deutsche Patienten trägt die Krankenkasse, die 20 - 30.0000 Euro pro OP. Und Prof. Chapot trägt hohe Verantwortung, weil ein Eingriff tödlich verlaufen könnte. Doch der Leidensdruck der Betroffenen ist oft hoch. „Mein Leben ist zur Hölle geworden, weil die Ärzte mir verboten haben, etwas zu tun“, beschrieb das einer. Ein Jetpilot, der zunächst ein Flugverbot erhielt, sei nach der erfolgreichen Behandlung wieder im Eurofighter im Einsatz.
In seinem Gästebuch stehen dankbare Einträge, auf dem Computer hat er eine Bildergalerie von früheren Patienten in Sportdress, beim Wandern, Skateboarden oder Joggen. Wenn sie zurück in ihre Heimat fliegen, bittet Chapot: „Schicken Sie mir ein Foto.“ Er möchte wissen, wie ihr Leben weitergeht.
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