Essen-Holsterhausen. Alexander Wertgen ist Lehrer an der Essener Ruhrlandschule. Dort werden Kinder unterrichtet, die längere Zeit im Uniklinikum sein müssen.
An der Ruhrlandschule neben dem Uni-Klinikum in Holsterhausen werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, die über längere Zeit im Klinikum behandelt werden. Manchmal findet der Unterricht in den Klassenräumen der Ruhrlandschule statt, manchmal auch am Krankenbett. Alexander Wertgen berichtet von seinem ungewöhnlichen Lehrer-Beruf.
Herr Wertgen, Sie sind Lehrer an der Ruhrlandschule und unterrichten vor allem Kinder in der Uni-Klinik. Haben die kranken Kinder überhaupt Lust auf den Unterricht?
Es gibt natürlich ein paar Schülerinnen und Schüler, die gar keine Lust haben. Andere Kinder sind aber froh, dass so eine Abwechslung in den Klinikalltag reinkommt. Im Krankenhaus zu sein, ist ja sowieso schön blöd und wenn dann noch der Lehrer erscheint, sind viele erstmal genervt.
Die Kinder sind im Krankenhaus mit Schmerzen und Krankheit konfrontiert. Braucht es da zusätzlich noch Schulunterricht?
Für die Kinder ändert sich hier manchmal das ganze Leben. Die Schule und das Lernen sind aber etwas Schönes! Lehrer- und Schülerrolle sind etwas Vertrautes. Das gibt Halt. Als Patient müssen die Kinder vieles über sich ergehen lassen, als Schüler können sie aber aktiv sein. Im Lernen steckt das Versprechen, dass es noch eine Zukunft für das Kind geben wird. Wir schauen uns nicht den Tod an, sondern das Leben.
Leben und Tod liegen im Krankenhaus nah beieinander. Manche Schüler werden ihren Abschluss nie erreichen können. Was machen diese Todesfälle mit Ihnen?
Ich habe das Gefühl, dass hier jeder Mitarbeiter ein Konto hat, auf das die Todesfälle eingebucht werden. Es gibt viele Szenen, die ich erlebt habe und die ich nicht mehr vergessen kann. Manche davon sind schon über 15 Jahre her. Die Erinnerungen kommen dabei oft zurück, wenn ich mich entspanne oder im Urlaub bin. Ich muss darauf achten, dass ich wieder ins Lot komme. Am nächsten Tag gibt es wieder andere Kinder, mit denen ich arbeiten muss. Es ist einfach wichtig, die Balance zu halten.
Was sind das konkret für Erinnerungen?
Ich hatte einmal eine Schülerin, die massive Schmerzen hatte. Es war klar, dass sie in den nächsten Tagen sterben wird. Sie wurde gegen die Schmerzen behandelt, aber auch sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben wird. Dieses Kind hat nachher wie ein Embryo zusammengekauert in seinem Bett gelegen und auf den Tod gewartet.
Was haben Sie gedacht, als Sie das Mädchen so gesehen haben?
Manchmal habe ich einen Blick auf das Mädchen geworfen. In diesen Momenten musste ich immer mit mir kämpfen. Ich habe mich gefragt: Setzt du dich jetzt ans Bett oder gehst du an ihr vorbei? Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte.
Würden Sie heute etwas anders machen?
Damals war ich noch ein relativ junger Lehrer. Heute würde ich das aushalten und zu ihr gehen. Da hilft es dann nicht, irgendwas Schlaues zu sagen. Das Kind ist der Regisseur. Ich mache das, was das Kind möchte. Die Kinder wollen oft gar nicht über Leben und Tod diskutieren. Sie möchten einfach nur, dass man vorbeikommt.
Das hört sich sehr belastend an. Finden Sie in Ihrer Freizeit einen Ausgleich zum Krankenhausalltag?
Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verwischt sich immer mehr. Die Gedanken ploppen auf, wenn ich am Strand liege und ich mich entspannen möchte. Plötzlich sieht man dann innerlich das todkranke Kind. Ich kann das nicht abstellen. Das sind Dinge, die man einfach mitnimmt. Das ist eigentlich auch gut, dass es einen nicht kaltlässt. Es gab aber auch schon einige Kollegen, die daran zerbrochen sind und gesagt haben: „Ich kann das nicht mehr.“
Verändert es die Sichtweise auf das Leben, jeden Tag mit dem Tod konfrontiert zu werden?
Ja. Die Arbeit spiegelt mir wider, wie gut es mir eigentlich geht. Das Paradoxe an der Gesundheit ist ja, dass man nicht merkt, wenn man gesund ist. Auf der Arbeit bekomme ich immer wieder gezeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, gesund zu sein. Geld und solche Sachen sind für mich nicht mehr wichtig.
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Trotzdem läuft nicht immer alles perfekt im Leben.
Ich erwische mich manchmal auch selber, wenn ich denke: Warum bist du eigentlich jetzt unzufrieden? Ich fahre zum Beispiel in den Urlaub und es regnet. Es ist seltsam, wie wir uns manchmal über unwichtige Dinge ärgern. Mir geht es sehr gut, weil ich überhaupt in den Urlaub fahren kann. Die Kinder können das nicht. Es ist eine verzerrte Wahrnehmung.
Warum möchten Sie in so einem belastenden Beruf arbeiten?
Ich mag die Flexibilität. Man weiß nie, was kommt, und es gibt immer wieder Überraschungsmomente. Es geht ja zum Glück nicht jede Krankheit schlimm aus. Es gibt auch viele Kinder, die man nach drei Jahren wiedersieht. Die haben dann einen riesigen Schuss gemacht. Die Haare sind alle wieder da, sie sind fit und können alles machen. Es gibt hier auch oft ein Happy End. Ich habe definitiv keinen Job, wo man nach dem Sinn dahinter fragt.
Vielen Dank für das Interview, Herr Wertgen!
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