Essen-Karnap. Manche loben die Natur, andere sehen gravierende Probleme. Ein Besuch im nördlichsten Stadtteil Essens: einem Ort der Gegensätze.
Nächster Halt: Karnap, Arenbergstraße. Links die historische Seilscheibe, ein Wahrzeichen des Stadtteils, eingerahmt von Wiesen und Bäumen, rechts der Sperrmüll auf dem Gehweg. Jemand hat einen Einkaufswagen vor dem Wohnhaus abgestellt. Ein Klimagerät baumelt, locker festgebunden, unter einem Fensterbrett, die Rollläden sind heruntergelassen.
Die Redaktion hat bei Instagram und Facebook nachgefragt, was Menschen mit dem Stadtteil Karnap verbinden: Einige stimmen ein Loblied an: „idyllisches Dorfleben“, „gute Nachbarschaft“, „friedliches Zusammenleben vieler Kulturen“, „schöne Siedlungen“, „viel Grün“, oder schwelgen in nostalgischen Erinnerungen über ihre unbeschwerte Kindheit, während andere vor allem Dreck, Müll und Verkehrschaos wahrnehmen und darüber klagen, dass Karnap sich ausschließlich zum Schlechten verändert habe.
An der Karnaper Straße liegt ein Baugrundstück seit fast zwei Jahren brach
Thorsten Kaiser (46), Geschäftsführer der Vereine Karnaper Bürgerbündnis 1999 (KBB) und Sportpark Karnap, ist im Stadtteil aufgewachsen, lebt gern hier und will nicht weg. Abgesehen von einer kurzen Episode in seinem Leben, als er den Plan fasste, nach Kuba auszuwandern. Warum er‘s nicht getan hat? „Ich bin Einzelkind und meine Mutter hätte das zu traurig gemacht.“
Seine Straße, die Thusneldastraße sei die schönste Essens, findet er, „und das sagen auch andere“: Der Duft der Lindenbäume, ihr kühlendes Laubdach im Sommer, die summenden Hummeln. Die Kehrseite, das olle Laub am Boden, das man mehrmals im Jahr wegräumen müsse, nimmt er zähneknirschend in Kauf. Aber im Ernst: Natürlich habe der Stadtteil auch echte Probleme, sagt Thorsten Kaiser. Der Wegfall vieler alteingesessener Geschäfte, die großen Herausforderungen durch Zuwanderung, die Müllberge, die regelmäßig an den immer gleichen Straßenecken entstehen.
Wer der Karnaper Straße in nördlicher Richtung folgt, sieht hübsche Altbauten neben schmucklosen Mehrfamilienhäusern, Supermärkte, Bäcker, Apotheken und Dönerläden, Barbershop und Kioske. Dazwischen ein paar leerstehende Ladenlokale, immer mal wieder ein bisschen Sperrmüll, und schließlich ein verwildertes Baugrundstück, auf dem seit bald zwei Jahren nichts passiert. Ein Senioren-Wohnprojekt der Dortmunder Humanika-Gruppe ist hier geplant. Eigentlich sollten die Wohnungen 2024 fertig werden, auf der Internetseite ist jetzt vom vierten Quartal 2025 die Rede. Thorsten Kaiser winkt ab, da werde so bald nichts passieren, meint er. Auf eine schriftliche Anfrage zum Baubeginn und zu den Gründen für die Verzögerung reagiert der Humanika-Geschäftsführer Svetoslav Markov nicht.
Wilde Kippen sind in Essen-Karnap ein großes Problem
Die Karnaper Straße sei in Sachen wilde Kippen besonders problematisch, sagt Denis Gollan, ebenfalls Karnaper von Geburt und aus Überzeugung. Drei Jahre lang hat der heute 32-Jährige, der unter anderem die Facebookseite „Karnap im Wandel“ betreibt, die Müllberge nahezu täglich dokumentiert und gemeldet. Etwa 80 bis 90 Adressen habe er in dieser Zeit gefunden, und festgestellt, dass zumindest ein Teil der wilden Kippen von „Mülltouristen“ aus Bottrop oder Gelsenkirchen verursacht werde.
Er führt zu einer besonders üblen Stelle: Auf Höhe der Haltestelle Boyer Straße liegt eine frei zugängliche Brachfläche. Deren Zufahrt ist breit genug, dass sogar große Mengen Abfall und sperriger Gegenstände offenbar problemlos abgeladen werden können. Neben mehreren Altreifen verschiedener Formate liegt dort ein Kühlschrank, Laminat und Spanplatten sowie zahllose zum Teil aufgerissene blaue Abfallsäcke. Einiges scheint aus einer Gastronomie oder einem Supermarkt zu stammen.
Immer wieder machte Gollan in der Vergangenheit auf den Zustand des Grundstücks aufmerksam. Man habe den Eigentümer mehrfach informiert, nachdem Hinweise über den Mängelmelder eingegangen waren, heißt es auf Nachfrage vonseiten der Stadt.
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Es dauert eine Weile und bedarf mehrerer Anfragen, aber schließlich bestätigt die Bahn, Eigentümerin des besagten Grundstücks zu sein. Es handele sich um eine Baustelleneinrichtungsfläche, erläutert ein Sprecher: Man lagere dort Bauteile, weil der Schallschutz an der nahegelegenen Brücke noch fertiggestellt werden müsse. Wann das geschehe? Unklar. Und der Müll? Die Verursacher seien unbekannt, der Hinweis auf die Problematik aber an die verantwortliche Stelle weitergegeben. „Wann der Müll entfernt wird, können wir Ihnen derzeit nicht sagen.“ Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich: Da die Fläche für Reisende nicht relevant ist, steht sie weit unten auf der Prioritätenliste. Auch eine Absprerrung der Zufahrt ist zumindest aktuell kein Thema: Es könne nicht die Lösung sein, alles von oben bis unten einzuzäunen. „Jedem sollte klar sein, dass das kein Müllsammelplatz ist.“
„Wann der Müll entfernt wird, können wir Ihnen derzeit nicht sagen.“
Das ist wohl so, doch wo einmal Müll liegt, sinkt bekanntlich auch die Hemmschwelle, und es kommt schnell weiterer hinzu. Zwischenzeitlich hatte auch die AfD das Thema aufgegriffen und auf die Tagesordnung der Bezirksvertretungssitzung gehievt. Neben der Forderung zur Sicherung des Grundstücks wegen drohender Gefahren durch den Bahnverkehr verlangte die Partei, den Eigentümer „zur Beseitigung der illegalen Müllkippe anzuhalten“. Das allerdings hat die Stadt nach eigenem Bekunden in der Vergangenheit ja schon getan. Eine rechtliche Handhabe gebe es in derartigen Fällen nur, „wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht, zum Beispiel im Falle der Ablagerung von organischem Müll“.
Im Sportpark Karnap können Kinder und Jugendliche spielen und Sport treiben
Was also: Ärgern, schimpfen, resignieren? Für Gollan und Kaiser lautet das Rezept: selbst aktiv werden, anpacken. Dazu gehören Müllsammelaktionen, bei denen sie selbst zu Zange und Müllsack greifen, doch ihr Engagement geht weit darüber hinaus. Thorsten Kaisers Herzensprojekt ist der Sportpark Karnap. Darauf angesprochen, ist Kaiser kaum noch zu bremsen: Bald soll es ein Familienurlaubsprojekt geben, seit Kurzem hat man eine Bogensport-Anlage, die Mädchen-Fußballgruppe laufe super, ebenso das Sportangebot für ukrainische Kinder, die Aktionen mit Kitas, und E-Sports soll es bald geben, und so weiter, und so weiter.
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Man wolle Kindern und Jugendlichen mehr Bewegung und Freizeitaktivitäten ermöglichen, ohne dass sie Mitglied im Verein sein müssten. Die Fläche, die einst vom Tennisclub genutzt wurde und danach langsam verwahrloste, richte man Stück für Stück her, um sie zu beleben. „Der Essener Norden kann auch schön sein, man muss nur etwas daraus machen“, sagt Kaiser.
„Der Essener Norden kann auch schön sein, man muss nur etwas daraus machen.“
Beim Spaziergang durch den Stadtteil wird Thorsten Kaiser an jeder Ecke gegrüßt, von Kindern ebenso wie von Erwachsenen. Wenn man „Dorfleben“ so interpretiert, dass jeder jeden kennt, scheint das auf Kaiser zuzutreffen. Er selbst lehnt diese Zuschreibung allerdings rigoros ab: „Wir sind kein Dorf mehr, das ist vorbei.“
Die wenig dörfliche Geräuschkulisse an der Karnaper Straße scheint ihm Recht zu geben. Die ruhigen Wohngegenden gebe es schon, sagt er, in den Seitenstraßen, in der alten Zechensiedlung. Doch das eigentliche Pfund des Stadtteils sei der Emscherpark: „Das grüne Herz des Essener Nordens“, sagt auch Denis Gollan.
So funktioniert der Mängelmelder
Über den Mängelmelder kann jeder die Stadt Essen über wilde Müllkippen und Schäden im öffentlichen Raum informieren. Das funktioniert über die kostenlose App „Essen bleib(t) sauber!“, die auf dem Smartphone, dem Tablet und dem PC nutzbar ist. Zudem können wilde Kippen auch online über den Browser gemeldet werden https://maengelmelder.essen.de/
Auch per Mail an essenbleibtsauber@essen.de und telefonisch über (88-88 888) kann die Stadt informiert werden.
Tatsächlich lässt ein Besuch dort Lärm und Dreck sofort vergessen. Doch Grün ist ja nicht alles, was also fehlt dem Stadtteil? Die Antwort kommt prompt: eine Eisdiele und ein Drogeriemarkt. Doch Kaiser wäre nicht Kaiser, soviel hat man bei diesem Rundgang mittlerweile begriffen, wenn er nicht schon eine Idee hätte: Wieder soll‘s der Sportpark richten: Einen Drogeriemarkt kann er nicht mal eben bauen, wohl aber ein „Inklusionscafé“. Ein Eisdielen-Betreiber aus einem anderen Stadtteil sei Mitglied im Verein, sagt er, die nötige Expertise also bereits da.
Das wenig überraschende Fazit dieses Rundgangs: Es haben mal wieder alle Recht. Kommt drauf an, wo man hinguckt und was man sehen will. Und um es mit Thorsten Kaisers Worten zu sagen: „Andere haben schlimmere Probleme als Karnap.“
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