Essen. Die Schauspielerin Marie-Lou Sellem verortet ihr Regiedebüt „Die Schule der Frauen“ in Essen. Im Filmstudio beantwortet sie Fragen.
Viele Mädchen träumen davon, Schauspielerin zu werden. Als Cornelia Felden, Jacqueline Kornmüller, Kerstin Weiß, Karoline Eichhorn, Katharina Linder und Marie-Lou Sellem in den 1980er Jahren an der Folkwang-Hochschule (heute Universität) aufgenommen wurden, dachten sie, die große Freiheit bricht an. Weit gefehlt. Die männlich dominierte Welt im Theater und am Filmset hat sie verändert. Vor der Kamera wiedervereint erzählen Folkwang-Ehemalige, wie es ihnen in den letzten 36 Jahren ergangen ist. Marie-Lou Sellem (58) ist am Sonntag zu Gast im Filmstudio. Hier spricht sie über ihr Regiedebüt und eigene Erfahrungen.
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Frau Sellem, Sie haben für Ihren Dokumentarfilm den Titel einer Molière-Komödie gewählt. Warum?
Es ist die erste Grande Comédie überhaupt, mit der wir alle schon in Berührung gekommen sind. Sie erzählt von einem Mann, der ein Mädchen zu seiner Ehefrau erziehen will. Das beschreibt für mich die Zeit, als wir angefangen haben.
In Ihrem Film geht es um Erfahrungen von Frauen mit dem patriarchalen System in der Kultur. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Das Thema ist zu mir gekommen. Es ist sechs Jahre her. Ich war über 50, die Angebote wurden weniger. Dann starb mein Vater, den ich sehr liebte. Ein männliches Referenzsystem brach weg und ich stellte fest, dass ich mich fast ausschließlich aus dem Blick der Männer formuliert habe - 36 Jahre. Am Theater hatte ich vielleicht mit drei Regisseurinnen zu tun, beim Film war das anders. Es war Zeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
Folkwang-Ehemalige über Ertragen und Widerstand gegen männliche Dominanz
Sie haben die fünf Frauen Ihres Jahrgangs an der Folkwang-Hochschule (heute Universität) in den Mittelpunkt gestellt und deren Lebenswege erzählt. Wie sind Sie vorgegangen?
Zunächst bin ich allen dankbar, dass sie sich geöffnet und dieses Unternehmen mitgetragen haben. Ich habe allen die gleichen Fragen gestellt. Ich wollte für den Beruf eine Sensibilität schaffen. Wir sollen ja das Weibliche repräsentieren. Ich wollte die Herkunft erkunden, wie sie waren, als sie auf die Spur gesetzt wurden und welchen Umständen sie ausgesetzt waren. Sie sind Stellvertreterinnen für andere Frauen, die das erleben. Deshalb gibt es keine Namen zu den Bildern.
Die #MeToo-Enthüllungen brachten sexuelle Belästigungen in der Filmwelt ans Licht. Ihre Kolleginnen berichten auch von Vorfällen an Theatern, von der Hand des Intendanten am Po einer Bewerberin, von körperlichen Begutachtungen, von Gewalt, vom Begrapschen hinter der Bühne, vom Ertragen und Widerstand. Ist Ihnen das auch passiert?
Ich habe mit drei Intendanten diese Erfahrungen gemacht. Übergriffe und Anfassen habe ich mehrmals die Woche erlebt, auch auf die subtile Art. Wir sind ständig in einer Beurteilungssituation. Da sind wahnsinnige Verletzungen passiert.
Wie haben Sie das verpackt?
Ich habe dafür einen Preis gezahlt. Ich habe mir eine große Klappe zugelegt. Das kam nicht gut an. Ab Mitte 40 kippte das dann. Es gibt aber auch tolle Erlebnisse.
Gehörte die Ausbildung an der Folkwang-Hochschule dazu? Was haben Sie gelernt?
Ich war sehr glücklich. Wir alle waren so stolz, als wir aufgenommen wurden. Ich dachte wirklich, ich könnte die Welt verändern. Ich habe in Essen gelernt, dass wir alle zusammengehören, dass man sich anderen Disziplinen öffnet. Der Folkwang-Gedanke war toll. Wir wurden dort reich beschenkt. Wir sind sehr gut ausgebildet worden.
Wenn an Bühnen und Filmsets das Interesse an Schauspielerinnen ab 50 sinkt
Man kennt Sie aus Filmen wie „Winterschläfer“, aus anspruchsvollen Fernsehproduktionen, aus dem Theater. Es hat den Anschein, dass Sie kein Problem mit dem Älterwerden haben.
Das Älterwerden ist nicht so leicht. Ab 50 sinkt das Interesse an Schauspielerinnen. Man ist viel besser, als man es je war, auch wenn die Haut schrumpelig wird. Mit diesem Reichtum kommt man nicht mehr weiter. Ich hätte mein Leben lang gern künstlerisch gearbeitet. Aber es muss ja weitergehen. Ich habe eine Ausbildung als Heilpraktikerin für Psychotherapie gemacht.
Was wünschen Sie sich in puncto Altersdiskriminierung, die im Film ebenso angesprochen wird wie die Tatsache, dass Frauen am Theater immer noch schlechter bezahlt werden als Männer?
Dass der Film in die Kiste des Deutschen Filmpreises kommt und alle diese zynische Wahrheit sehen. Wir müssen etwas dagegen machen. Gleiche Bezahlung wäre ein Anfang. Wir müssen die Männer mitnehmen in diesem Wandel. Die sind auch betroffen von der Altersdiskriminierung. Ich wünsche mir, dass wir solidarischer werden.
Kurz-Kritik: „Die Schule der Frauen“
Marie-Lou Sellem gelingt bei ihrem Regiedebüt auf eindrucksvolle Weise von Machtmissbrauch, von Gewalt, Demütigungen, sexuellen Belästigungen und Altersdiskriminierung in der deutschen Kulturlandschaft zu erzählen. Obwohl das Thema ernst und zutiefst emotional ist, kommt der Dokumentarfilm „Die Schule der Frauen“, der in Kooperation mit dem Kleinen Fernsehspiel des ZDF entstanden ist, ohne Drama und Enthüllungen aus. Er hat die Leichtigkeit eines Klassentreffens, ohne die dunklen Momente auszuschließen.
Die Regisseurin taucht in ihrem Film nicht auf. Es gibt keinen Kommentar. Keiner der Männer wird an den Pranger gestellt. Die Frauen vor der Kamera werden nicht unmittelbar benannt. Ihre Bilder und Aussagen sprechen für sich. Das gilt auch für heutige Studierende, die am Ende des Dokumentarfilms in das Gespräch einbezogen werden. Sie haben Diversität und Diskriminierung auf dem Zettel, doch Ausgrenzung wegen des Alters scheinbar nicht. Sellems harte Schule der Frauen ist ein wichtiger Beitrag zur #MeToo-Debatte, die sich keineswegs erledigt hat. Sehenwert.
In Anwesenheit der Regisseurin ist „Die Schule der Frauen“ am 22. September, 15 Uhr, im Filmstudio zu sehen. Weitere Termine: 23. und 24.9., 17.30 Uhr. Karten: 0201 27 55 55 oder online auf www.filmspiegel-essen.de
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