Essen. Trotz gesetzlicher Vorgaben ist der Essener ÖPNV nicht barrierefrei. Eine Rollstuhlfahrerin (23) erzählt, was das für sie bedeutet.
Selbstbestimmt studieren: Für die meisten ist das selbstverständlich. Wer nicht das Auto nimmt, nutzt den ÖPNV: am Hauptbahnhof in die U-Bahn einsteigen, die Fahrt dauert wenige Minuten. Nach dem Aussteigen geht es die Treppen hoch, eine Zwischenebene, danach wieder Treppen. Oben angekommen, stehen die Studierenden vor dem großen Gebäude der Universität Essen: Das alte Audimax.
Milena Gies sitzt vor dem großen Gebäude. Sie lächelt. Ihre Mutter hat sie mit dem Auto gebracht. Ohne ihre Eltern wäre die Uni für sie unerreichbar. Die 23-Jährige ist seit vier Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Als sie zwölf war, ist sie an einer seltenen Krankheit erkrankt. Lange gab es keine Diagnose. Ihr Orthopäde habe damals gesagt: „Das, was Sie haben, kann eigentlich nicht sein.“ Heute weiß sie: Es ist „Dopa-responsive Dystonie“. Eine neurologische Krankheit, bei der das Gehirn nicht mehr richtig mit den Muskeln kommuniziert.
Alleine mit der Bahn zur Essener Uni fahren: Im Rollstuhl unmöglich
Milena Gies wollte immer Medizin studieren und hat sich eingeschrieben. Was ihr beim Studieren im Weg steht: Die Treppen zur U-Bahn-Station. „Ohne Auto geht gar nichts“, sagt sie. Selber fahren kann sie nicht. Den ÖPNV versucht sie zu vermeiden. Denn auch bei den Haltestellen, die als barrierefrei gekennzeichnet seien, habe sie schlechte Erfahrungen gemacht. „Ich habe es schon oft mit der U-Bahn probiert. Immer wieder stehe ich dann aber vor defekten Aufzügen.“
In Essen gibt es noch vier unterirdische U-Bahn-Haltestellen, die nicht mit einem Fahrstuhl ausgestattet sind: Bismarckplatz, Planckstraße, Hirschlandplatz und die Haltestelle Universität Essen.
„Ich habe es schon oft mit der U-Bahn probiert. Immer wieder stehe ich dann aber vor kaputten Aufzügen.““
Es gebe zwar Rolltreppen, aber die seien regelmäßig defekt, sagt Milena Gies. Sie selbst könne diese ohnehin mit dem Rollstuhl nicht nutzen: „Wer schon einmal im Rollstuhl gesessen hat, der weiß auch, wie schwierig das ist.“ Die umliegenden Stationen „Bamlerstraße“ und „Berliner Platz“ sind zwar barrierefrei, jedoch von der Universität aus schwer zu erreichen. „Wenn ich zum Berliner Platz möchte, muss ich eine weite Strecke bergauf zurücklegen“, sagt sie. Das Gleiche gelte auch für die Haltestelle „Bamlerstraße“.
Was die Rolltreppen betrifft, kündigt die Ruhrbahn eine teilweise Erneuerung ab 2028 an. Einige seien bereits vor etwa zehn Jahren erneuert worden, seien allerdings von „minderer Qualität“, weshalb es seit acht Jahren einen Rechtsstreit mit dem Hersteller beim Landgericht Essen gebe. Auch Vandalismus sei immer wieder ein Problem. „Die Ruhrbahn hat einen Störungsdienst im Einsatz, der bei Ausfall einer Anlage die erste Störungsbeseitigung übernimmt, allerdings kann dieser Einsatz schon mal länger dauern, da das Ruhrbahn-Netz groß ist“, so die Ruhrbahn-Sprecherin.
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Die Essener Universität ist auch durch mehrere Buslinien an den Nahverkehr angebunden. Die Essenerin berichtet, wie sie auch hier versucht habe, das Nahverkehrsangebot zu nutzen. „Obwohl ich extra auf den Knopf für Gehbehinderte gedrückt habe, ist der Bus weitergefahren, ohne auf mich zu warten“, sagt die 23-Jährige.
Was die Ruhrbahn Fahrgästen mit Rollstuhl rät
1. Ein Fahrgast im Rollstuhl solle sich für den Einstieg an der Haltestelle gut sichtbar positionieren und ggf. durch ein Handzeichen auf sich aufmerksam machen, damit das Fahrpersonal bei größeren Haltestellen erkennen kann, dass dieser Bus bzw. diese Straßenbahn gemeint ist.
2. In der ZÄPP-App könne man ebenfalls unter Radar den Kinderwagen-Haltewunsch drücken, wenn das Fahrzeug im Empfangsbereich auf dem Display erscheint.
3. Wenn Bus oder Bahn anhalten, komme das Fahrpersonal – nachdem der Vordereinstieg der Fahrgäste und ggf. Ticketverkauf abgeschlossen ist – zum Fahrgast im Rollstuhl und klappe die Rampe aus (Bus: 2. Tür, Straßenbahn: 1. Tür (Regelfall), 3. Tür (Ausnahme). Die Rampenbedienung solle durch Ruhrbahn-Personal erfolgen.
4. Der Einstieg bzw. das Einrollen erfolge selbstständig, hier müsse das Fahrpersonal nicht helfen. Zu diesem Zeitpunkt könne man sich schon über die gewünschte Ausstiegshaltestelle verständigen. Der Rollstuhl müsse vom Fahrgast auf einem der Rollstuhlplätze in der Mehrzweckfläche gegen die Fahrtrichtung an der Anlehnplatte abgestellt und gesichert werden. Dort befinde sich auch der „blaue“ Haltewunschtaster mit Rollstuhl- und Kinderwagenpiktogramm.
5. Für den Ausstieg, den der Fahrgast im Rollstuhl möglichst beim Einstieg schon dem Fahrpersonal mitgeteilt haben solle, sei entweder der „blaue“ Haltewunschtaster zu bedienen oder die ZÄPP-App (Radar, Kinderwagen-Haltewunsch) zu nutzen. Nach dem Halt gelte das Gleiche wie unter 3.
Am Ende muss sich Milena Gies immer wieder auf ihre Eltern verlassen und von ihnen gefahren werden. „Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie das alles mitmachen. Trotzdem tut es mir leid, dass sie so viel für mich hergeben müssen.“ Wenn ihre Eltern krank sind, stehe sie vor einem neuen Problem: Die Anwesenheitspflicht in bestimmten Kursen. „Andere gehen ohne Grund einfach mal nicht in die Uni. Ich hebe mir die Fehlzeiten auf, sodass ich einen Puffer habe, wenn meine Eltern krank sind.“
U-Bahn Haltestelle Universität Essen soll erst 2030 barrierefrei werden
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Viele Essener U-Bahn-Stationen und Straßenbahnsteige sind nicht barrierefrei ausgebaut. Laut Ruhrbahn sind 86 Prozent der U-Bahn-Steige, aber nur 35 Prozent der Straßenbahn-Steige und 30 Prozent der Bussteige bislang barrierefrei. Eigentlich schreibt das Personenbeförderungsgesetz vor, dass alle Haltestellen schon seit 2022 barrierefrei hätten sein müssen. Bei der Ruhrbahn hat es trotz gesetzlicher Verpflichtungen nicht funktioniert. Eine Sprecherin der Ruhrbahn begründet das mit der engen Bebauung in der Stadt. Zudem gebe es zu wenig Personal. Wann alle Stationen in Essen barrierefrei umgebaut werden, sei nicht absehbar.
Uni nennt Anlaufstellen für Menschen mit Behinderungen
In der Universität Duisburg-Essen vertritt eine Schwerbehindertenvertretung die Interessen von schwerbehinderten Beschäftigten. Ansprechpartner sind die die Inklusionsberatungsstelle und die Beauftragten für die Belange behinderter und chronisch erkrankter Studierender. Der AStA ist mit dem Autonomen Referat der Behinderten und chronisch erkrankten Studierenden (BCKS) eine weitere Anlaufstelle.
Auch das akademische Beratungszentrum könne mit spezifischen Angeboten helfen, teilt die Universität mit. Darüber hinaus sei Inklusion an der UDE ein wichtiges Anliegen: „Wir möchten uns stets verbessern, um Mitglieder der Universität mit Behinderungen gut zu unterstützen.“
Milena Gies hat wenig Verständnis dafür, dass die gesetzlichen Verpflichtungen nicht eingehalten werden. „Das zeigt mir einfach, dass denen das Thema nicht wichtig genug ist.“ Immerhin: Laut Ruhrbahn sollen bis Ende des Jahres alle alten Straßenbahnen ausgetauscht werden. Es ist ein kleiner Schritt auf dem Weg zur vollständigen Barrierefreiheit im Essener Nahverkehr. Neben den Problemen im Nahverkehr ärgern sie häufig auch die Reaktionen ihrer Mitmenschen: „Wenn man im Rollstuhl sitzt und zuckt, dann schauen einen die Leute nicht mehr nur an: Sie starren!“, sagt Gies. „Wir stehen durch die Erkrankung nicht am Rand der Gesellschaft. Wir werden von der Gesellschaft an den Rand gedrückt!“
Bislang hätten die Universität Duisburg-Essen nur vereinzelt Hinweise erreicht, dass der ÖPNV nicht zuverlässig für Studierende mit Behinderungen nutzbar sei, teilt Uni-Sprecherin Astrid Bergmeister auf Anfrage mit.
„Auch wenn die Verantwortung für technische Ausfälle beim Betreiber des Verkehrsmittels liegt, so hat die UDE ein großes Interesse daran, dass die Campi in Duisburg und in Essen für behinderte Studierende und Beschäftigte der UDE gut erreichbar ist.“ Zur Unterstützung von Studierenden mit Behinderungen würden etwa die Inklusionsberatung, die Fachstudienberatungen und Diversity-Ansprechpersonen bei der Suche nach individuellen Lösungen begleiten.
Gies sieht die die Ruhrbahn in der Verantwortung. Für die Zukunft hat sie mehrere Wünsche an den Essener Nahverkehr: „Ich wünsche mir, dass mehr mit den Betroffenen geredet wird. Auch die Haltestelle an der Uni sollte bald barrierefrei ausgebaut werden.“ Laut Ruhrbahn soll die U-Bahn-Haltestelle an der Universität in den kommenden Jahren modernisiert werden. rst 2027 bis 2030 soll es so weit sein. Teil der Modernisierung soll ein neuer Aufzug sein. Milena Gies wird als Studentin davon wohl nicht mehr profitieren können.
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