Essen-Altenessen. In einer Essener WG leben Menschen zusammen, die rund um die Uhr Betreuung benötigen. Der Verein Integrationsmodell sorgt dafür, dass das gelingt.
Dmitri liebt Kinofilme, Theaterstücke und Museumsbesuche. Er „bummelt“ gerne durch die Stadt, wo auch seine Lieblingskneipe, das „Café Nord“ liegt. Mit dem Rollstuhl komme man da ganz gut rein, sagt er, zumindest mit dem schmaleren E-Rolli, den man auch kippen kann. Denn den braucht Dmitri, von seinen Freunden und Mitbewohnern Dimi genannt, um sich frei zu bewegen. Ebenso wie einen Menschen, der ihn begleitet und bei seinen Hobbys unterstützt.
Der 38-Jährige lebt in Altenessen, in einer besonderen Wohngemeinschaft: Der Verein Integrationsmodell betreibt in einem ehemaligen Pfarrhaus die „WG Neuessener Straße“. Seit zehn Jahren wohnen hier Menschen mit Behinderungen zusammen, die Betreuung und Pflege benötigen. Die meisten der 36- bis 44-Jährigen sind von Anfang an dabei.
Pflegekräfte und Pädagogen unterstützen die Essener WG-Bewohner rund um die Uhr
Der Alltag in der WG ist durchstrukturiert. Insgesamt 19 Mitarbeitende kümmern sich im Schichtdienst um Pflege, Alltags- und Freizeitgestaltung im Haus. „Die Bewohner sollen das tun, was sie alleine noch können“, erklärt der Geschäftsführer des Vereins, Michael Bülow, „bei allen anderen Dingen werden sie unterstützt“. So sorgen Pflegefachkräfte und Pädagogen dafür, dass die Bewohner morgens zeitig fertig sind, um zu ihrer Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gebracht zu werden, sie fragen Essenswünsche ab und begleiten bei Einkaufsdiensten, sie helfen bei der Körperhygiene und bei vielen alltäglichen Handgriffen, sie kochen mit den Bewohnern, oder spielen, wie jetzt, eine Runde „Mensch, ärgere dich nicht“ mit.
Freizeitassistenten gesucht
Der Verein Integrationsmodell Ortsverband Essen wurde 1986 gegründet. Er setzt sich für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein, auch im Rahmen eigener Wohnprojekte. Heute ist der Verein öffentlich anerkannter Träger des Betreuten Wohnens und der Ambulanten Pflege.
Die Wohnprojekte sind auf 15 Standorte verteilt, darunter sind insgesamt acht Wohngemeinschaften, die auch nachts mit Personal besetzt sind. Zudem gibt es Hausgemeinschaften ohne Nachtdienst und Einzelwohnungen.
Personal wird laut Auskunft des Vereins immer gesucht; auch Menschen, die stundenweise als Freizeitassistenz arbeiten wollen, werden dringend gebraucht. Kontakt zum Verein: Geschäftsführer Michael Bülow ist per Mail an buelow@im-essen.de oder telefonisch unter 0201 810 53 50 erreichbar; weitere Ansprechpartner zu bestimmten Theman sind auf der Website im-essen.de zu finden.
Es ist ein heißer Nachmittag, alle sind erschöpft von Hitze und Arbeit, doch das Spiel hebt sichtlich und hörbar die Stimmung. Für Ungeübte ist die Kommunikation am Esstisch in der großen Wohnküche kaum zu verfolgen, doch untereinander scheint es nur wenige Schwierigkeiten bei der Verständigung zu geben. „Viele hier werden unterschätzt, weil sie sie kaum oder gar nicht sprechen können“, erklärt Heilpädagogin und Einrichtungsleiterin Kerstin Wißing.
Da ist Tobias mit einer Autismus-Spektrumstörung, der Dinge lieber zeigt als benennt, und der sich während des lebhaften Spiels auf die Schaukel in den Garten zurückzieht. Da ist David, der großen Wert darauf legt, dass man seinen Namen richtig ausspricht, sofern man dazu in der Lage ist: also bitte in der englischen, nicht der deutschen Variante. Und da ist Dimi, der sich alle Mühe gibt, Fragen zu seinem Leben in der WG, zu seinem Alltag, zu seiner Freizeit zu beantworten, sich zwischendurch aber immer wieder Übersetzungshilfe von Kerstin Wißing holen muss. Die hat sich, wie sie sagt, in seine Aussprache „reingehört“, wie auch die übrigen Mitarbeitenden. Kommen sie mal so gar nicht weiter, buchstabiert Dimi die einzelnen Wörter, oder ein anderer Bewohner übernimmt das Dolmetschen. „Fünf von den sieben in der Gruppe können untereinander sehr gut kommunizieren, zwei brauchen Hilfe von Mitarbeitenden“, sagt Kerstin Wißing.
Bewohner der Altenessener WG kennen sich seit vielen Jahren
Die meisten Bewohner kennen einander seit über zehn Jahren. „Es ist ungewöhnlich für ein solches Projekt, dass sie von Anfang an als Gruppe zusammenwohnten“, sagt Michael Bülow. Als der Verein die WG an der Neuessenerstraße startete, hatten sie sich schon einige Male getroffen. Bei der Sanierung des Hauses, das der Verein von der Kirche gekauft hatte, seien die Zimmer – allesamt Einzelzimmer mit eigenem Bad und Dusche – speziell auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten worden, so Bülow. Der Altbau mit seinen drei Etagen erhielt einen Aufzug und einen Sport- und Freizeitraum.
Ihre Zimmer gestalten die Bewohner und Bewohnerinnen nach ihrem eigenen Geschmack: „Es gibt keine Standardeinrichtung“, erklärt Wißing. David und Dominik erlauben den Besuchern einen Blick hinein. Davids Zimmer lässt sofort den RWE-Fan erkennen: An der Wand hängt eine Collage aus Eintrittskarten und eine RWE-Flagge. Ein großer Fernseher, den David selbst bedienen kann, steht auf der Kommode. In Dominiks Zimmer dominiert ein Kleiderschrank aus Kiefernholz, an dem ein Autokalender hängt. Vor dem Fenster ein Traumfänger, über dem Bett ein buntes Bild, das der junge Mann selbst gemalt hat.
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Für den Umbau habe man Zuschüsse von der Wohlfahrtspflege und der Aktion Mensch erhalten. „Staatliche Unterstützung gibt es für ambulante Einrichtungen nicht“, sagt Bülow. Eine andere WG müsse man voraussichtlich im Herbst aufgeben, weil sie nicht mehr zeitgemäß sei: „Die Kosten für erforderliche Renovierungen und Modernisierungen liegen dort im sechststelligen Bereich.“
Essener Verein muss oft um technische Hilfsmittel für die Bewohner kämpfen
Auch in Altenessen müsse man die Kosten theoretisch aus den Mieten finanzieren, die die Bewohner zahlen – was unrealistisch sei, da diese Grundsicherung erhalten würden, die Miete also entsprechend niedrig bleiben müsse, erklärt Bülow. Hinzu kämen Gelder aus Pflegeversicherungen und den individuell unterschiedlich hohen Ansprüchen auf sogenannte Fachleistungsstunden. Unter‘m Strich sei der Verein also auch auf Benefizveranstaltungen und Spendengelder angewiesen.
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„Obwohl die WG wohnlich und familiär ist – im Hintergrund wirkt ein bürokratisches System“, sagt Bülow. Das auch im Alltag seine Tücken habe, zum Beispiel technische Hilfsmittel. Dimi etwa könnte mit einem sogenannten „Talker“ weit besser auch mit Außenstehenden kommunizieren, also an der Gesellschaft teilhaben, worauf er eigentlich einen gesetzlichen Anspruch hat. Bei dem Gerät handelt es sich um eine Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe, so dass Dimi nur einzugeben bräuchte, was er sagen möchte, und das Gerät für ihn die verständliche Aussprache übernehmen würde. Doch die Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen seien regelmäßig ein zähes Hin und Her, sagt Kerstin Wißing. „Dabei könnte die Technik in vielen Fällen viel verbessern.“
So dauert es auch heute eine ganze Weile, bis Dimi endlich verstanden wird, als er von einem Varieté-Besuch berichtet. Er würde gern noch mehr unternehmen in seiner Freizeit, hätte Anspruch auf 14 Stunden Assistenz, doch es scheitert immer wieder an der Verfügbarkeit von Menschen, die diesen Job übernehmen möchten. Derzeit hat er nur jemanden, der vier bis sechs Stunden übernimmt. Nicht gerade viel Zeit für Kino, Museum und Kneipe.
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