Essen. Betriebe finden keine Leute, trotzdem steigt die Arbeitslosigkeit in Essen deutlich. Vielfach mangelt es an Qualifikation, auch bei Zuwanderern.

Im Jahr 2022 sah es so aus, als hätte sich der Essener Arbeitsmarkt nach der Corona-Pandemie gut erholt. Damals konnte die Arbeitsagentur übers Jahr gerechnet eine Arbeitslosenquote von 10 Prozent vermelden. Diese war sogar geringer als noch vor der Pandemie. Doch von dieser Zahl entfernt sich Essen seit längerem mehr und mehr. Im Juli und im August überschritt die Quote sogar wieder die Schwelle von 11 Prozent.

Andererseits verstummen die Klagen der Unternehmen nicht, dass sie keine Arbeitskräfte finden. Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite wächst die Arbeitslosigkeit. Auf der anderen gibt es offenbar genug Arbeit, für die sich niemand findet.

Zunächst ist ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Sommer normal: Unternehmen stellen in der Urlaubszeit traditionell weniger ein. Und ausgelernte Azubis überbrücken ihre Zeit, bis sie eine Stelle antreten, indem sie sich arbeitslos melden. So weit, so üblich.

Unternehmen zurückhaltender bei Einstellungen, aber keine Entlassungswellen

Dennoch macht sich am Arbeitsmarkt schon seit längerem Krisenstimmung breit: Erst kam die Pandemie, durch die man dank massiver Kurzarbeit gut durchgekommen ist. Dann brach der Ukraine-Krieg aus, in dessen Folge Energie unglaublich teuer wurde und die Inflation in die Höhe schnellte. Auch die Zinsen im Euroraum stiegen, Kredite für Unternehmen verteuerten sich. Keine gute Ausgangslage, die die Wirtschaft zu Einstellungen animiert, sondern die sie vorsichtig werden lässt. Das ist bundesweit und auch in Essen so.

Und dennoch: Um wichtige Fachkräfte nicht zu verlieren, halten die Essener Unternehmen an ihnen fest. „Es gibt keine Entlassungswellen“, sagt Andrea Demler, Chefin der Arbeitsagentur. Einzig die Insolvenz des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof machte sich in der Arbeitsmarktstatistik bemerkbar. Denn nicht nur im Service-Center in Bredeney wurden hunderte Jobs gestrichen, auch das Karstadt-Lager in Vogelheim schloss und machte viele Essener und Essenerinnen arbeitslos. „Karstadt war ein Sondereffekt“, unterstreicht Andrea Demler.   

Halbes Jahr, bis freie Stellen in Essen besetzt werden können

Aktuell sind rund 3400 offene Stellen bei der Arbeitsagentur gemeldet. Fast 150 Tage dauert es im Schnitt, bis ein Unternehmen sie besetzen kann. Das ist fast ein halbes Jahr. „Die Unternehmen finden nicht, was sie suchen“, sagt Demler und sie weiß sie: „Für die Betriebe ist das fatal.“

Um die Probleme zu verstehen, lohnt sich ein Blick darauf, was die Unternehmen suchen, und was die Arbeitslosen mitbringen. Schnell zeigt sich: Nachfrage und Angebot passen nicht so recht zusammen. So richten sich die meisten freien Arbeitsplätze an Experten bzw. Spezialisten oder Fachkräfte. Für die wenigsten, nämlich 17 Prozent, braucht es keine Qualifikation. Das sind Hilfsjobs.

Unter den arbeitslosen Essener und Essenerinnen wiederum gelten: 24 Prozent als Experte/Spezialist, 9 Prozent sind Fachkräfte, aber der weit überwiegende Teil, nämlich 60 Prozent, haben nur ein Helfer-Niveau. Für sie gibt es aber wie gesehen die wenigsten Stellen.

Das überrascht, da gerade Branchen wie die Gastronomie häufig beklagen, dass auch viele Aushilfskräfte fehlen würden. Bei näherer Betrachtung seien dies jedoch meistens nur Minijobs und keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, sagt die Arbeitsagentur-Chefin. Für Menschen, die noch nicht lange arbeitslos sind, sind solche Arbeitsangebote keine Alternative. Für langzeitarbeitslose Bürgergeld-Empfänger wiederum scheint die staatliche Leistung zu wenig Anreiz zu bieten, um sich etwas dazuzuverdienen. Meist lohnt sich ein Niedriglohnjob für sie nicht, weil wenig davon hängen bleibt. „Dennoch wäre es wenigstens die Chance, so wieder in den Arbeitsmarkt zu finden“, glaubt Andrea Demler. In ihren Bereich fallen die Bürgergeld-Empfänger allerdings nicht. Sie werden vom Jobcenter betreut.

Andrea Demler leitet die Arbeitsagentur in Essen. In ihren Verantwortungsbereich fallen alle die, die in der Regel kürzer als ein Jahr arbeitslos sind. Das sind in Essen rund 8000 Menschen von insgesamt 34.000 Arbeitslosen.
Andrea Demler leitet die Arbeitsagentur in Essen. In ihren Verantwortungsbereich fallen alle die, die in der Regel kürzer als ein Jahr arbeitslos sind. Das sind in Essen rund 8000 Menschen von insgesamt 34.000 Arbeitslosen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Jobsuche ist immer häufiger mit Qualifizierung verbunden

Selbst wenn auf dem Papier formal alles passt, finden sich Unternehmen und Arbeitsuchende nicht automatisch, wie das Aus des Galeria-Lagers in Vogelheim zeigte: Die Logistikbranche gehört zwar zu denen, die einstellt. Dennoch taten sich viele ehemalige Mitarbeiter des Lagers schwer, einen neuen Job zu finden. Zum einen lag das am vergleichsweise guten Gehalt, das andere Unternehmen nicht zahlen wollen. Also blieben die Betroffenen lieber länger arbeitslos und warteten, ob sich nicht etwas Besseres fand.

Zum anderen ist Lagerarbeit nicht gleich Lagerarbeit. Im Galeria-Lager bewegten die Beschäftigten Hängeregister für Kleidung. In anderen Unternehmen aber seien andere Qualifikationen und Spezifikationen gefragt, betont Andrea Demler. Die logische Konsequenz: Entweder man eignet sich diese an oder schult gleich in einen neuen Beruf um.

Die Transformation am Arbeitsmarkt beschleunigt ist. Mit dem Einzug der Digitalisierung fallen einfache Jobs weg. Demler hat die Erfahrung gemacht, dass vor allem ältere Arbeitnehmer, die lange im selben Job waren und arbeitslos werden, den neuen Prozessen oft nicht gewachsen sind. Auch bei ihnen tut dann Weiterbildung oft Not. „Wir müssen als Arbeitsagentur in Zukunft sicher immer mehr erklären, was derjenige mitbringt und was am Arbeitsmarkt gefordert ist“, weiß Demler um die Herausforderung, auch Ältere nochmals auf die Schulbank zu bringen. Aber schließlich habe jemand, der mit Anfang 50 seine Arbeit verliert, noch mehr als 15 Jahre Berufsleben vor sich.

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Zuwanderung hält die Arbeitslosigkeit in Essen hoch

Bei all den Veränderungen am Arbeitsmarkt, die die Arbeitslosigkeit strukturell wachsen lässt, gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor: die Zuwanderung der vergangenen neun Jahre. Ohne diese, sähe die Statistik heute besser aus. Zahlen der Arbeitsagentur zeigen deutlich: Die Arbeitslosigkeit von Flüchtlingen bleibt seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau und ist mit dem Ukraine-Krieg nochmals stark gewachsen. Das heißt nicht, so Demler, dass diese keine Arbeit finden. Das passiert sogar immer häufiger, aber da es immer noch Zuwanderung gibt, wandern die Neuankömmlinge zunächst in die Sozialsysteme ein.

Rund 20.000 Zuwanderer aus den neun zuwanderungsstärksten Ländern sind in Essen aktuell arbeitssuchend bzw. arbeitslos gemeldet. „Das sind sehr sehr viele“, macht Andrea Demler kein Hehl aus den Aufgaben, die daraus erwachsen. Denn von ihnen kommen die meisten wegen der fehlenden Sprache und mangels Abschlüssen nur für Helfertätigkeiten infrage. „Was die Menschen mitbringen, passt häufig nicht zu dem, was Arbeitgeber nachfragen“, konstatiert die Arbeitsagentur-Chefin. „Wir brauchen deshalb Ideen, wie Menschen mit niedrigem Bildungsniveau so stabilisiert werden können, dass die Wirtschaft sie einstellt.“

Allerdings setzt Demler an dieser Stelle auch auf den Arbeitskräfte-Mangel, der in immer mehr Branchen und Unternehmen um sich greift. Ihr Kalkül dabei: „Wenn der Schmerz größer wird, dann sind die Arbeitgeber eher bereit, diese Menschen einzustellen und Geld und vor allem Zeit in sie zu investieren.“

Trotz einer Quote von elf Prozent: Arbeitslosigkeit in Essen liegt unter der vor zehn Jahren

Generell setzt die Arbeitsagentur darauf, dass Unternehmen erkennen, dass sie mehr in die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter stecken müssen, aber auch die Beschäftigten selbst mehr tun müssen. Stichwort: lebenslanges Lernen. Die Behörde unterstützt beide Seiten mit viel Geld und Beratung.

Doch bei allen Problemen, die es auf dem Essener Arbeitsmarkt gibt, ist Andrea Demler wichtig, zu betonen: „Langfristig gesehen, liegt die Arbeitslosigkeit auf einem deutlich niedrigeren Niveau als noch vor zehn Jahren, trotz der vielen Krisen in den vergangenen vier Jahren.“

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