Essen. Georg Nakzi floh vor neun Jahren nach Deutschland. Er lebt und studiert in Essen. Warum ihn der Messer-Anschlag von Solingen doppelt trifft.

George Nakzi studiert Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und lebt in Essen Frohnhausen. Er studierte drei Jahre Jura und Musik in Damaskus, bevor er Ende 2015 nach Deutschland floh. Wir treffen ihn wenige Tage nach dem Messer-Attentat in Solingen, bei dem drei Menschen getötet und acht weitere verletzt wurden.

George nimmt einen Stuhl. Sein Blick schweift vorsichtig umher. Ihm ist wichtig, etwas vorweg zu nehmen: „Um ehrlich zu sein, spreche ich mit dir, weil du auch aus Syrien kommst“, sagt er zur Reporterin. Er spricht langsam, als wäge er seine Worte ab, „ich will mich als Syrer nicht rechtfertigen müssen. Ich habe mit dem Täter nichts gemeinsam.“ Er erinnert sich an den Moment, als er von der Messerattacke in Solingen erfuhr. Am Samstagabend kam eine Nachricht auf sein Handy: „Es gab einen Messerangriff.“ Er war mit seinen syrischen Freunden unterwegs und las die Eilmeldung laut vor. Dann sagten sie – alle gleichzeitig: „Hoffentlich kein Syrer“. Diese Angst begleitet ihn seit der Silvesternacht 2016 in Berlin.

Über die Autorin

Heba Alkadri, 29 Jahre alt, ist Volontärin dieser Zeitung und selbst Ende 2016 aus Syrien geflohen. Nach ihrer Ankunft in Deutschland studierte sie Medienwirtschaft und Journalismus in Wilhelmshaven. Sie entschied sich, als Journalistin zu arbeiten, um Menschen eine Stimme zu geben, die sonst ungehört bleiben.

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George sagt, er sei immer auf dem neuesten Stand, was deutsche Nachrichten in den sozialen Medien betrifft. „Ich verfolge dutzende von Seiten“, sagt er. Er findet es wichtig, die politischen und gesellschaftlichen Debatten in Deutschland zu verfolgen.

„Aber in letzter Zeit ist es schwer, dem zu folgen. Rechtspopulistische Rhetorik ist allgegenwärtig. Die Debatten werden giftiger, und ich merke, wie das auf meine Stimmung drückt.“ Er schaut kurz ins Leere, seine Stimme stockt. „Als ich erfahren habe, dass der Täter Syrer ist ...“ Er verstummt, blickt in die Ferne. „Ich dachte, nicht schon wieder, nicht jetzt!“

„Warum soll ich mich schlecht fühlen?“ Allein der Gedanke sei ein Indiz dafür, dass man eher als Syrer denn als Deutscher gesehen und behandelt wird. Schlimmer noch für ihn: „Das gibt den Rechten noch mehr Futter, um gegen Geflüchtete zu hetzen. Die migrationsfeindliche Stimmung hat längst Fahrt aufgenommen.“ Georg beschloss, keine Nachrichten mehr zu lesen. „Ich wusste, wohin die Berichterstattung führt. Ich hatte das Gefühl, dass wir alle in Mithaftung genommen und kollektiv bestraft werden.“ Nach drei Tagen überkam ihn jedoch die Neugier: „Ich habe einige Stellungnahmen von Politikern gelesen und mein Gefühl bestätigt gefunden.“ 

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Syrer in Essen nach Solingen-Attentat: „Wir müssen immer 150 Prozent geben, wenn andere 100 geben“

Seitdem versucht George, Gespräche mit seinen deutschen Kommilitonen und Kollegen zu vermeiden. „Ich habe keine Lust, ständig zu erklären, dass ich mit solchen Leuten nichts zu tun habe“, sagt er. „Die Syrer, die ich kenne, und auch ich geben hier unser Bestes. Wenn ein deutscher Kollege 100 Prozent gibt, haben wir das Gefühl, 150 Prozent geben zu müssen.“ George hat in Deutschland verschiedene Jobs gemacht: Maler, Lackierer, Callcenter-Agent. Schließlich konnte er noch einmal studieren. Er war noch jung. Die Deutschkurse B2 und C1 zahlte er aus eigener Tasche.

Während seine Freunde in Damaskus ihren Abschluss machten, saß er hier wieder im ersten Semester. „Wir haben unsere Heimat verlassen, alles, was wir kannten und liebten. Unsere Welt ist zerbrochen. Aber wir kämpfen weiter.“ George war aus Syrien geflohen, unter anderem vor Verbrechern wie dem Mörder von Solingen.

Nach dem Deutschkurs musste sich der 29-Jährige entscheiden, was er studieren wollte. Ein alter Wunsch kam zurück: Politikwissenschaft. Davon hatte er geträumt, aber in Syrien war das nicht erwünscht. Dort steht man unter Beobachtung. „Und was hätte ich dort gelernt?“, fragt er rhetorisch. Wie eine Partei das Land regiert?

George Nakzi hat die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Er ist dankbar, aber auch erleichtert. Als er die Urkunde in den Händen hielt, wurde ihm bewusst, wie weit er gekommen war.
George Nakzi hat die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Er ist dankbar, aber auch erleichtert. Als er die Urkunde in den Händen hielt, wurde ihm bewusst, wie weit er gekommen war. © Heba Alkadri

Syrer in Essen befürchten Verzögerung der Einbürgerung

Vor wenigen Tagen erhielt George die deutsche Staatsbürgerschaft. Als er von den Vorfällen in Solingen erfuhr, dachte er: „Zum Glück habe ich den deutschen Pass schon.“ Rückblickend empfindet er diesen Gedanken als egoistisch. Viele seiner Freunde warten noch auf ihre Einbürgerung und fürchten, dass der Angriff in Solingen den Prozess jetzt verzögern könnte.

„Ich hielt die Einbürgerungsurkunde in den Händen“, erzählt George. Er stand vor dem Gebäude und schaute auf das Dokument. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, erzählt er. „Endlich sah ich den Lohn meiner harten Arbeit in neun Jahren.“ Ich spürte festen Boden unter den Füßen – Sicherheit, Stabilität. Ein Teil von ihm ist jetzt deutsch, der andere ist syrisch.

„Aber als ich wusste: Der Täter ist Syrer.“ George verstummt, sein Blick bleibt starr: „Es war, als wäre ich in einer anderen Dimension, mit zwei Avataren gleichzeitig in einem Spiel.“ Doch beide Identitäten sind von dem Anschlag betroffen, der Syrer und der Deutsche. „Es ist, als hätte ich zwei Herzen - und beide wurden verletzt. Der Schmerz sitzt tief.“

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