Essen. Der neue Essener Stadtwerke-Chef Frank Pieper will die Wärmewende vorantreiben. Das heißt: hohe Investitionen und mehr Baustellen im Stadtgebiet.
Was passiert nach dem Abschied vom Erdgas? Der neue Vorstandsvorsitzende der Stadtwerke Essen, Frank Pieper, will mit dem Unternehmen die Wärmewende deutlich aktiver angehen als bislang. Über seine Strategie sprachen Janet Lindgens und Wolfgang Kintscher mit dem 52-Jährigen.
Herr Pieper, Sie sind seit sieben Monaten Vorstandschef der Stadtwerke und haben bestimmt schon mehr als ein Gespür für die Situation, in der das Unternehmen steckt. Wo liegen die Aufgaben und Herausforderungen?
Vorweg: Die Stadtwerke Essen sind ein besonderer Fall, ein relativ kleines Stadtwerk in einer großen Stadt. Ich wusste natürlich vorher, dass wir über kein Stromnetz verfügen und bei der Fernwärme nur einen halben Fuß in der Tür haben. Das hat seine Historie und ist begründet. Mir war auch klar, dass Essen bis 2040 CO₂-neutral sein will und unser Erdgasgeschäft damit ausläuft. Manches andere war aus der Ferne aber nicht zu sehen. Zum Beispiel, wie stark der Wille unserer Gesellschafter ist, tatsächlich Veränderungen herbeizuführen. Welche Gelegenheit wir bekommen, uns in neue Geschäftsfelder zu entwickeln. Und wie die Stadtwerke dafür intern aufgestellt sind. Darüber konnte ich mir erst in den vergangenen Monaten ein Bild machen, das mich positiv stimmt.
Was fehlt den Stadtwerken am dringendsten?
Wir haben dicke Bretter zu bohren und hätten mit vielem früher anfangen sollen. Wir haben das Thema Zukunftsfähigkeit und den Start in neue Geschäftsfelder lange vernachlässigt. Da hätten wir schon weiter sein können. Andere Gasversorger machen es uns vor.
Was genau meinen Sie damit?
Die kommunale Wärmeplanung wird aufzeigen, welche großen Herausforderungen anstehen, um die Wärmeversorgung der Stadt Essen von kohlenstoffhaltigen Energieträgern unabhängig zu machen. Wir wollen hier mitgestalten und nicht nur Gasnetze stilllegen. Hierfür hätten wir die vergangenen, wirtschaftlich sehr erfolgreichen Jahre schon nutzen können.
Stattdessen wurde gespart?
Sagen wir so: Die Stadtwerke waren auf dem Effizienzpfad und haben immer hervorragende Ergebnisse abgeliefert.
Die die Stadt ja auch eingefordert hat, nicht zuletzt Ihr Vorstandskollege Lars Martin Klieve in seiner früheren Rolle als Kämmerer…
Auch ihm ist klar, dass wir spät dran sind. Da gilt es jetzt, in sehr kurzer Zeit vieles nachzuholen.
Wo also drängt es am meisten?
Bau, Betrieb und Instandhaltung von Ver- und Entsorgungs-Infrastrukturen sind unser Kerngeschäft – da sind wir stark. Allerdings haben wir in fast allen Unternehmensbereichen inzwischen einen sehr hohen Altersdurchschnitt. In unserer Abteilung Netzservice liegt dieser beispielsweise bei 53 Jahren. Das habe ich so noch in keinem Stadtwerk erlebt, und das macht mir Sorgen, denn dort droht uns in den nächsten Jahren viel Wissen und Kompetenz verloren zu gehen. Nachdem die Ausbildung in der Vergangenheit immer weiter heruntergefahren und viele Leistungen fremd vergeben wurden, schalten wir jetzt eine Ausbildungsoffensive.
Das ist sicher auch im Sinne der Stadt als Gesellschafter. Gibt es potenzielle Stolpersteine in der Zusammenarbeit mit der Stadt?
Mit der Vorgabe, die Wärmewende bis 2040 zu schaffen, also die Wärmeversorgung zu dekarbonisieren, hat die Stadt Essen indirekt auch den drei Energieversorgern vor Ort – Westenergie, Iqony und den Stadtwerken - hohe Ziele gesteckt. Gerade wir als lokaler Gasnetzbetreiber haben eine gewaltige Transformation vor der Brust und wollen in neue Geschäftsfelder investieren.
Investitionen heißt dann wohl auch, dass sich die Stadt auf sinkende Erlöse bei den Stadtwerken einstellen muss.
Wir werden in Deutschland – nicht nur in Essen - über unschöne Wahrheiten diskutieren müssen. Die Wärmewende wird Geld kosten. Ohne Investitionen geht es nicht. Wir als Stadtwerke Essen arbeiten gerade an Langfrist-Szenarien für unsere Finanzplanung. Dabei wird klar, dass wir die erforderlichen Investitionen wohl nicht ohne eine Eigenkapitalerhöhung stemmen werden.
Über wie viel Geld reden wir?
Ich möchte noch keine Summe nennen.
Immerhin stehen rund 120 Millionen Euro aus dem Steag-Verkauf für die Wärmewende in Essen zur Verfügung. Würde Ihnen die Summe ausreichen?
Wenn wir das Geld als Eigenkapital bekommen könnten, kämen wir mit der Finanzierung sehr weit. Aber ich kann verstehen, dass die Politik und unsere privaten Gesellschafter zunächst konkrete Pläne sehen wollen, wie das Geld investiert werden soll.
Den Bauern wird es trotzdem nicht freuen, wenn seine beste Kuh im Stall weniger Milch gibt. Die Stadtwerke sind im städtischen Verbund der wichtigste Geldbringer und eigentlich notwendiger denn je, um die Verluste der Ruhrbahn abzufedern.
Es wird nicht so sein, dass wir nichts mehr abliefern. Ja, der Erdgasabsatz wird in den nächsten 15 bis 20 Jahren deutlich zurückgehen und die Vertriebsmargen vermutlich schwinden. Der Betrieb des Erdgasnetzes wird uns in dieser Zeit aber weiter Erlöse bringen. Außerdem sind wir im Stromvertrieb tätig, in der Wasserversorgung, im Geschäft mit Energiedienstleistungen, und unser wichtigstes Standbein ist und bleibt die Entwässerung.
Wenn das Erdgas-Geschäft ein Auslaufmodell ist – womit wollen die Stadtwerke diese Erlöse künftig kompensieren?
Unter anderem wollen wir das Geschäft der Niedertemperatur-Wärmeversorgung ausbauen. Das nennt man auch Nahwärme, weil die erzeugte Wärme nicht wie bei der klassischen Fernwärme über weite Strecken transportiert wird. Großes Potenzial gibt es durch die Nutzung von erneuerbaren Wärmequellen und von lokaler Abwärme. Das kann Wärme aus Grubenwasser sein, Abwärme aus Kläranlagen oder Flusswärme aus der Ruhr. Dafür müssen wir allerdings neue Netze bauen. Das kostet Geld und wird ohne Fördermittel nicht zu stemmen sein. Allerdings reichen die aktuellen Fördertöpfe wohl nicht aus, die Bund und Land für die Wärmewende zur Verfügung stellen. Da muss sich dringend etwas an den Rahmenbedingungen ändern.
Das klingt nach noch mehr Baustellen.
Als in den 60er und 70er Jahren die Erdgasnetze massiv ausgebaut wurden, haben die Bürger das auch akzeptiert und als Fortschritt begrüßt. Wenn wir jetzt in eine CO₂-neutrale Wärmeversorgung wollen, gibt es im urbanen Raum im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Die Bestandsgebäude energetisch sanieren und die Stromnetze ertüchtigen, um Wärmepumpen einzubauen, oder Wärmenetze verlegen. In Dänemark kann man sich anschauen, dass nachhaltige Nah- und Fernwärmelösungen ökonomisch und ökologisch der richtige Weg sind – gerade im großstädtischen Bereich. Davon bin ich auch überzeugt.
Aufgaben und Gesellschafter
Die Stadtwerke Essen versorgen die Essener Bürgerinnen und Bürger mit Erdgas, Strom und Trinkwasser. Dabei sind sie auch für die Erweiterung und Instandhaltung des Erdgas- sowie des Wassernetzes verantwortlich – inklusive der Abwasserentsorgung.
Die umsatzstärkste Sparten sind das Erdgas- und das Abwasser-Geschäft. In Essen beliefern die Stadtwerke rund 56.000 Gebäude mit Gas und sind damit der Grundversorger in der Stadt.
Die Stadtwerke gehören mehrheitlich der Stadt, die über die Essener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (EVV) 51 Prozent der Anteile halten. 29 Prozent gehören der Eon-Tochter Westenergie und 20 Prozent dem Stadtwerkeverbund Thüga.
Für großes Erstaunen haben vor einigen Monaten die Augsburger Stadtwerke gesorgt, die ihren Kunden bereits in zehn Jahren den Gashahn zudrehen wollten. Wie halten Sie es damit?
Die Augsburger sind da kräftig zurückgerudert. Wir Gasnetzbetreiber haben heute einen gesetzlichen Versorgungsauftrag. Mit der Verschiebung der Wärmeversorgung weg vom Erdgas wird es aber auf Sicht zunehmend Teilnetze geben, deren Betrieb sich nicht mehr rechnet. Dann macht es Sinn, über eine Abschaltung nachzudenken und den Betroffenen Alternativen anzubieten. Dieses Thema ist in der Politik und bei der Bundesnetzagentur angekommen.
Die Stadtwerke könnten das Gasnetz auch für Wasserstoff nutzen, oder glauben Sie nicht an die Wärmegewinnung aus grünem Wasserstoff?
Essen hat den Vorteil, dass das deutsche Wasserstoff-Kernnetz im Norden das Stadtgebiet kreuzt. Mit dem Ferngasnetzbetreiber Open Grid Europe bin ich bereits im Gespräch, wie wir Wasserstoff aus dem Transportnetz in unser Verteilnetz bringen. Wenn Sie mich aber fragen, ob wir unser ganzes Erdgasnetz künftig mit Wasserstoff füllen: definitiv nicht. Der Wasserstoff dürfte vorzugsweise von industriellen Kunden nachgefragt werden. Zu diesen wollen wir ihn bringen. Dafür müssen sicher Netzabschnitte neu gebaut werden, aber wo möglich, wollen wir die bestehende Infrastruktur nutzen. Ob in Wohngebäuden in der Nähe dieser Trassen irgendwann auch Wasserstoff zum Heizen genutzt wird, ist vor allem eine Frage des zukünftigen Preises. Ich gehe heute davon aus, dass wir einen Großteil unseres Erdgasnetzes irgendwann stilllegen werden.
Herausforderung Wärmewende
Wie groß die Herausforderungen der Wärmewende in Essen sind, zeigen diese Zahlen: Der Gesamtwärmebedarf in Essen setzte sich im vergangenen Jahr wie folgt zusammen: 52 Prozent Erdgas, 19 Prozent Öl, 18 Prozent Fernwärme, 8 Prozent Strom-Direktheizungen, 1 Prozent Wärmepumpen und 2 Prozent sonstige Heizlösungen, wie zum Beispiel Holzhackschnitzel.
Die Fernwärme soll ihren Anteil bis 2040 auf 36 Prozent verdoppeln und vollständig CO₂-neutral werden. Allein das sei „unglaublich ambitioniert“, meint Pieper. Ohne Gas und Öl brauche es aber immer noch nachhaltige Lösungen für über die Hälfte des Essener Wärmemarktes. Die Luft-Wärmepumpe sei zwar eine hocheffiziente Lösung, die sich aber nicht für jedes Gebäude eignet.
Stadtwerke-Chef Pieper rechnet vor: „Selbst wenn die Gebäude-Sanierungsrate sich ab sofort verdreifachen würde, wären 2040 erst die Hälfte aller Essener Gebäude energetisch so ertüchtigt, dass die Wärmepumpen-Zentralheizung die jeweils wirtschaftlichste Lösung darstellt.“ Allein die Kosten für die Gebäudedämmung dürften jedoch viele Eigentümer überfordern. Eine Alternative könnten aus Piepers Sicht daher Nahwärmenetze sein.
Es wird aber nicht wirtschaftlich sein, neue Fern- oder Nahwärmenetze bis in den letzten Zipfel von Essen zu legen. Welche Alternativen bleiben den dortigen Hauseigentümern, wenn sie heute noch Gas beziehen?
Es machte auch keinen Sinn, Erdgasleitungen bis in den letzten Zipfel der Stadt zu legen. Wer keinen Gasanschluss hat, heizt heute vielleicht mit Öl. Zukünftige Alternativen wären Wärmepumpen, Wärmepumpen-Hybridheizungen mit grünem Gas, Stromdirektheizungen, solarthermische Lösungen und die Nutzung von Biomasse. Und ja - Wärmenetze sind nur dort wirtschaftlich, wo viele Menschen wohnen und auch an diese Netze angeschlossen werden wollen.
Ist die von der Stadt gewollte Klimaneutralität bis 2040 überhaupt realistisch?
Sie ist umsetzbar, allerdings mit den derzeitigen Fördermittel-Rahmenbedingungen nur schwer zu finanzieren.
Wie sieht es eigentlich mit Photovoltaik aus? Bislang spielen die Stadtwerke als Dienstleister so gut wie keine Rolle.
Das stimmt so nicht, für die Wohnungswirtschaft sind wir ein zunehmend gefragter Partner. Zurückhaltend sind wir im privaten Kundengeschäft, da schlüsselfertige Lösungen hier immer sehr individuell ausfallen. Hier dürfen wir uns nicht verzetteln.
Auch beim Thema Elektromobilität sind die Stadtwerke zurückhaltend. Warum?
Ich kenne kein Stadtwerk, das wirklich Geld mit Ladeinfrastruktur verdient. Außerdem sind wir in Essen kein Stromnetzbetreiber. Es ist also kein Geschäftsfeld, das wir intensiv verfolgen.
Zusammenfassend halten wir fest: Von den Stadtwerken kommt in Zukunft weniger Geld in die städtische Kasse, stattdessen ärgern Sie, Herr Pieper, uns mit noch mehr Baustellen. Denn auch im Abwasserbereich dräut ja noch einiges.
Wir haben nichts davon, jemanden zu verärgern – schon gar nicht unsere Kunden. Die Bürgerinnen und Bürger in Essen können sich darauf verlassen, dass wir unsere Aufgaben in der Ver- und Entsorgung bestmöglich erledigen. Tatsächlich haben wir auch in der Stadtentwässerung noch arbeitsreiche Zeiten vor uns. Das Kanalnetz ist in die Jahre gekommen, die Schäden nehmen zu. Bis weit übers Jahr 2030 hinaus investieren wir dort jährlich hohe zweistellige Millionenbeträge. Die meisten Maßnahmen werden von der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen - aber Baustellen im Verkehrsbereich gehören auch zu unserem Geschäft. Hier arbeiten wir mit großem Aufwand daran, die Einschränkungen so gering wie möglich zu halten.
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