Essen-Heisingen. Geplatzte Träume, die „Gustloff“ und ein Wiedersehen: Um berührende wie ungewöhnliche Geschichten der Bewohner geht es im Essener Paulushof.
In der Hoffnung auf einen besseren Ort ohne die Sorgen des Krieges, mit genug zu essen, machte sich Lieselotte damals auf den Weg. Sie war 15 Jahre alt, mit ihr flüchteten ihre Mutter, ihre Schwester und die Oma. Das war 1945, ihr Ziel war die Gustloff, ein vermeintlich rettendes Schiff. Es sind diese eindrucksvollen wie berührenden Geschichten, die Porträts und Texte, die derzeit im Paulushof zu sehen und zu lesen sind. Zum 40-jährigen Bestehen stellt das Pflegeheim seine Bewohner in den Mittelpunkt, die heute dort leben - oder bereits gestorben sind.
Margarethe wurde 96 Jahre alt, war sehr gläubig und auch dankbar, zuletzt für die Kleinigkeiten, die ihr im Paulushof begegneten. Als junge Frau, da war sie „ein Fräulein vom Amt“ oder auch die „Drahtamsel“, wie man Telefonistinnen nannte. Zuvor hatte sie in einem Hotel auf der Kurischen Nehrung in einem kleinen Laden gearbeitet, machte dann im Winter Kurse für Steno und Schreibmaschine und wechselte beruflich ins Büro des Schulrates. Im Krieg wurden in ihrem Ort dann Telefonistinnen gesucht, Margarethe bewarb sich und wurde angenommen.
„Die Verbindungen wurden von Hand durch Umstöpseln der Leitungen hergestellt. Wir waren fünf Mädels im Dienst“, erzählte Gretel, wie Familie und Freunde sie nannten. Sie erinnerte sich gern an ihre Kindheit in Ostpreußen als Zweitälteste von sechs Geschwistern, die auf einem Hof mit Tieren wohnten. Eines der schönsten Erlebnisse aber, das war das Kennenlernen ihres Mannes Gustav – am Telefon. „Zuerst kannte ich nur seine wohltönende, dunkle Stimme. In die habe ich mich zuerst verliebt“, berichtete die frühere Telefonistin rückblickend über ihre große Liebe, die aus Essen kam.
Es war schließlich ein langes nächtliches Gespräch, bei dem sie mehr voneinander erfuhren. Danach holte Gustav sie vom Dienst ab. „Bald darauf haben wir geheiratet.“ Sie bekamen einen Sohn, der seinen Vater jedoch schon wenige Jahre nach dem Krieg verlor. Mit 34 Jahren wurde Margarethe Witwe, arbeitete sich von der Schreibkraft bis zur Vorzimmer-Sekretärin hoch, um den Lebensunterhalt zu verdienen. „Bevor Computer Einzug hielten, davor habe ich mich ehrlich gesagt auch etwas gefürchtet, bin ich in Rente gegangen“, erzählte sie, deren Lebensweg jetzt nachzulesen ist, da sie nicht mehr lebt.
Aufgeschrieben haben die Senioren ihre Erinnerungen selbst oder Sozialpädagogin Gabriele Arndt-Bodden hat geholfen, hat ihre Vornamen dazu notiert. Die 57-Jährige ist seit zwölf Jahren als Leitung soziale Dienste verantwortlich im Paulushof, wo sie zunächst sieben Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet hat. Als der 40. Geburtstag des Pflegeheims näher rückte, da haben sie am Stemmering in Heisingen überlegt, wie sie diesen begehen möchten und waren sich rasch einig: „Es soll um die Bewohner gehen.“ Welch glücklicher Zufall, dass ihr Koch auch ein begabter Künstler ist. Vasil Nikolov zeichnete mit Bleistift neun Porträts.
„Ein porträtierter Bewohner hat die Ausstellung leider nicht mehr gesehen“, sagt Gabriele Arndt-Bodden. Inzwischen leben auch zwei weitere Bewohner nicht mehr, deren Bilder nun ausgestellt sind. Die Menschen lebten insgesamt nicht mehr so lange im Heim, sie zögen älter und kränker ein, ihre Verweildauer habe sich sehr verkürzt. Früher habe es einen kleinen Anteil an schwerst pflegebedürftigen Bewohnern gegeben (20-30 Prozent), die übrigen seien leicht pflegebedürftig gewesen, heute sei es umgekehrt. „Die Senioren kommen oftmals erst, wenn es Zuhause gar nicht mehr geht“, sagt die Leiterin zu einer der Veränderungen im Laufe der Jahre. Die bedeute auch, dass immer wieder Abschiede anstehen, dass sich die Wohngemeinschaften häufiger änderten.
98 Menschen wohnen im Paulushof, so viele sind es auch schon vor vier Jahrzehnten bei der Eröffnung gewesen. Geändert hat sich beim Umbau vor zehn Jahren einiges, da das Gesetz jetzt mehr Einzelzimmer vorsieht - vor dem Umbau waren es 38, nun sind es 70. Hinzu kommen 14 Doppelzimmer. Die einzelnen Wohneinheiten haben zudem jeweils Bäder bekommen, die Fassade einen bunten Anstrich. Seit 2016 gehören 14 Tagespflegeplätze zum Haus. Es gibt Angebote wie das gemeinsame Singen, Bingo und den Flohmarkt im Foyer, wo eine Vitrine mit gespendeten Gläsern, Vasen und getrockneten Strohkränzen steht. Wer ein kleines Budget hat oder nicht mehr ins Dorf kommt, kann hier kleine Geschenke oder Deko für sein Zimmer kaufen - das Geld bleibt im Haus, das etwa regelmäßig Ausflüge anbietet.
Im Haus befindet sich das Heisinger Bergbaumuseum, Flure sind mit Grubenlampen dekoriert, während der Stammbaum der Zeche Carl Funke neben historischen Fotos hängt. Um heute in den Paulushof einziehen zu können, müssen die Bewohner mindestens den Pflegegrad zwei haben. Um sie kümmern sich rund 100 Mitarbeiter in der Verwaltung, in der Küche, als Putz- oder Pflegekräfte. Neben der Fluktuation der Bewohner seien Personalengpässe die größte Herausforderung, sagt Gabriele Arndt-Bodden, die dankbar für den Einsatz von Zeitarbeitskräften ist. Denn der Markt sei leergefegt. Die Warteliste im Paulushof ist hingegen lang, darauf stehen die Menschen, die akut einen Platz suchen, und diejenigen, die sich haben für später eintragen lassen.
Die jüngsten Bewohner seien Ende 50 - der jüngste unter ihnen sei kürzlich gestorben. Die älteste wiederum lebt bereits seit 14 Jahren hier und ist schon deshalb eine Ausnahme. „Alte Schachtel“, nennt sich Maria Leiting selbst lächelnd. Sie feiert bald ihren 100. Geburtstag. Auch sie ist porträtiert worden, nach der Ausstellung wird sie ihr Bild dann in ihrem Zimmer aufhängen können. „Dabei weiß man doch eigentlich, wie man aussieht“, wirft Ilse Cram (92) augenzwinkernd ein, die sich viele Jahrzehnte mit der Ortshistorie Heisingens befasst und auch Bücher über diese geschrieben hat.
Zur Lebensgeschichte von Erika gehören das Wiedersehen mit der Familie in den Kriegswirren und das große Begrüßungs-Hallo, Freude und Tränen sowie Hundegebell. Mit dabei ihre Brüder Günter und Wernfried, die mit auf das Anwesen von Opa Wilhelm in die Masuren reisten. Erika war zehn Jahre alt, als sie ein halbes Jahr lang bei den Großeltern blieb, als sie sich mit der Dorfjugend traf, um mit ihnen Kühe zu hüten, bei der Heu- und Kartoffelernte zu helfen und am Feuer zu singen.
„Der Wald lieferte seinen Reichtum an Pilzen und Beeren aller Art und fleißige Frauen sammelten Wäschekörbe voll davon“, wusste Erika noch ganz genau. Ihr Opa wiederum verkaufte damals seine Aale bis nach Berlin, die Oma in der eigenen Räucherkammer räucherte. Ermöglicht hatte ihr Vater ihnen als Kinder diesen langen Urlaub, während er als Kesselwärter auf Carl Funke arbeitete. „Dafür gilt ihm bis heute mein großer Dank“, sagte Erika noch mit 96 Jahren, da sie in diesen Ferien hat ihre familiären Wurzeln kennenlernen dürfen. Sie starb 2022.
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Heinrich war 14 Jahre alt, als er bei einer Turnveranstaltung seine Leidenschaft für den Sport entdeckte, die athletischen Übungen und kunstvollen Bewegungen bewunderte, die sein Leben prägten. Der Jugendliche „trainierte wie ein Verrückter“. Lieblingsdisziplinen: Ringe und Barren. Als der Krieg dann seine sportlichen Ambitionen unterbrach, galt ihm Turnen damals selbst in Gefangenschaft in Leningrad als Lichtblick: In ihrem Lager in einem Waldgebiet gab es Barren, Reck und Ringe.
Nach der Rückkehr aus Russland trainierte er wieder beim Heisinger Turnverein, lernte bei einem Lehrgang in Berlin sogar „Boxlegende Max Schmeling kennen, der uns alle persönlich begrüßte“. Heinrich selbst wurde später nach seiner aktiven Zeit erst Frauenturnwart, dann trainierte er eine Kinderturngruppe. Bis 2017 lebte er im Paulushof, wo er auch auf eine Bekannte traf. Mit 96 erzählte er schmunzelnd: „Vor einigen Tagen sprach mich hier eine Dame an, die von mir als Kind trainiert wurde und die mich tatsächlich im hohen Alter wiedererkannt hat!“
Als junges Mädchen lief die eingangs erwähnte Lieselotte los. Mit einem Nachbarn, mit seinem Pferd und kleiner Kutsche, mit Sack und Pack. Ihre Oma und ihre Schwester durften im Wagen mitfahren. Sie wollten die Gustloff erreichen: „Dieses gewaltige Schiff sollte uns zu einem besseren Ort bringen.“ Für sie lag dieser im Kurischen Haff. Zunächst hatten sie jedoch eine harte wie tagelange Wanderung hinter sich, als sie im Hafen von Gdynia (damals Gotenhafen) ankamen. Ein früher Morgen, 30. Januar 1945. „Um 13.10 Uhr sollte die Gustloff ablegen“, so erinnerte sich Lieselotte noch Jahrzehnte später.
„Das Schiff war aber völlig überladen, es waren wohl bereits fast 10.000 Menschen an Bord“, beschrieb Lieselotte. Kein Passagier wurde mehr zugelassen. Da half es auch nicht, dass ihre Mutter bettelte und bitterlich weinte, die Verantwortlichen ließen sich nicht erweichen. „Das Schiff fuhr ohne uns und unser Traum war in diesem Moment zerplatzt.“
Erst Tage später wandelte sich ihre maßlose Enttäuschung in tiefe Dankbarkeit. Sie erfuhren vom Untergang der Gustloff und von den tausenden Menschen, die diese Katastrophe nicht überlebt hatten. Lieselotte lebte - bis 2015.
Die Ausstellung im Paulushof, Stemmering 18, „Ich war gestern – und ich bin heute“ ist noch bis zum 15. September zu sehen.
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