Essen. Sie kann nur Kopf und Hals bewegen, selbst sprechen und atmen fällt ihr schwer. Herzenswunsch der Essener ALS-Patientin ist ein Gleitschirmflug.
Kirsten Brandenberg sitzt im Rollstuhl, ist bis auf Kopf und Hals komplett bewegungsunfähig und möchte bald fliegen. „Man hat ja noch Träume“, sagt sie schlicht zu dem geplanten Tandem-Gleitschirmflug. Seit 2011 ist die Essenerin an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt, hat viele Fähigkeiten verloren – ihre Freiheitsliebe ist bis heute ungebrochen.
Statt zum Arzt ging die Essenerin ins Fitnessstudio
Neben ihrem Hightech-Rollstuhl benötigt sie ein Beatmungsgerät, schon Sprechen strengt sie an. Mit leiser Stimme erzählt die 60-Jährige von der Frau, die sie war: „ein Landkind“ vom Niederrhein, Studentin der visuellen Kommunikation, Grafikdesignerin in Agenturen, immer in Bewegung. Vor 21 Jahren zog sie nach Heisingen – und blieb, „weil es so nah zum Baldeneysee ist, so friedlich, weil die Menschen hier so nett sind“. Ein Idyll, in dem ihre Tochter Sarah groß wurde.
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„Ich habe ein völlig normales Leben geführt“, sagt sie. „Ich war berufstätig, viel unterwegs, ehrenamtlich engagiert, sportlich, habe gesund gelebt.“ Als die ersten Symptome ihrer Erkrankung auftraten, ihre Beine so schwach waren, dass sie sich die Treppe herauf quälte, ging sie nicht zum Arzt – sondern ins Fitnessstudio. Und Walken, und dreimal die Woche schwimmen. „Ich dachte: ,Du musst Dich mehr bewegen’.“ Als das nicht half, stellte sie ihre Ernährung um, nahm weiter an, dass sie etwas falsch mache.
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Monate später fiel sie mehrmals beim Schlittschuhlaufen hin, obwohl sie eine gute Läuferin war. Nun rieten Freunde dringend zum Arztbesuch, doch der Hausarzt war ratlos, empfahl Vitamine. Erst der Wechsel zu einer Ärztin im Stadtteil brachte die wichtige Überweisung an die Neurologie der Uniklinik. Hier wurde sie aufwendig – stationär und ambulant – durchgecheckt. Ein Jahr war seit den anfänglichen Beschwerden vergangen, als der Arzt ihr sagte: „Sie haben ALS.“
Diagnose war ein Schock für die Mutter einer kleinen Tochter
Erst sagte sie, dass sie sich das fast gedacht hatte, sie habe zuvor ja viel dazu gelesen. Ihr zweiter Satz war: „Oh Gott, mein armes Kind.“ Noch heute kommen Kirsten Brandenberg die Tränen, wenn sie von diesem Moment erzählt. Acht Jahre alt war Sarah, ein kleines Mädchen, das seine Mutter braucht.
ALS ist eine neurologische Erkrankung, die zu einem fortschreitenden Abbau derjenigen Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark führt, die die Muskulatur steuern. Nach und nach werden erst die Beine und Arme gelähmt, es folgen Sprech-, Kau- und Schluck- und Atemmuskulatur. Am Ende sind die Betroffenen bei vollem Bewusstsein in ihrem Körper eingesperrt. „Man weiß nicht, wie schnell es voranschreitet. Das ist bei jedem Patienten anders“, sagt Kirsten Brandenberg. Klar ist, dass ALS nicht heilbar ist und das Leben verkürzt.
Bekanntester ALS-Patient: Stephen Hawking
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die zu fortschreitenden Muskellähmungen führt. Sie ist nicht heilbar und führt oft binnen weniger Jahre zum Tod.
Der wohl bekannteste ALS-Patient, Stephen Hawking, lebte indes viele Jahrzehnte mit der Krankheit: Sie wurde diagnostiziert, als er 21 Jahre alt war und verlief bei ihm sehr langsam. Der Physiker starb im Jahr 2018 im Alter von 76 Jahren.
Bei etwa 5 bis 10 Prozent der ALS-Patienten liegt eine genetische Veränderung vor. Bei der großen Mehrheit der Betroffenen ist die Krankheitsursache jedoch weitgehend unklar. In Deutschland leben ca. 8000 Menschen mit ALS.
Die „Ice Bucket Challenge“ machte 2014 in sozialen Netzwerken auf ALS aufmerksam und warb Spenden für die Erforschung der Krankheit ein: Gesunde Personen gossen sich einen Eimer Eiswasser über den Kopf und erlebten für Sekunden ein Gefühl der Lähmung, wie es ALS-Patienten dauerhaft ertragen müssen.
Nach dem ersten Schock beschloss sie zu kämpfen. „Ich musste mich auf ALS einstellen, ohne mich in die Krankheit zu ergeben. Musste klären, wie ich mein Leben gestalten kann.“ Sie ließ sich beraten, sprach mit einer Kinderpsychologin, die riet, Sarah die Fragen zu beantworten, die sie stellte, sie nicht zu überfordern, stets einen Schritt hinter ihrem Kind zu bleiben.
„Ich habe mich um meine Tochter gekümmert und noch drei Jahre gearbeitet.“ Als das nicht mehr möglich war, überlegte Kirsten Brandenberg, was sie nun mit ihrer Zeit machen könne. Da sie sich schon immer für Technik interessierte, befasste sie sich intensiv mit dem Computer, der zu einem zentralen Hilfsmittel werden sollte und ihr ermöglicht, ihre Kreativität auszuleben: Sie macht Kunst per Augensteuerung.
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Die 60-Jährige ist gern draußen, findet dort – etwa in Blumen und Früchten – überall Kreise. Für sie ist das die „vollendete Form“, die sie in fröhliche Farben taucht, ornamental anordnet, ineinanderfließen lässt. Kirsten Brandenberg malt mit ihren Blicken. Man findet ihre Motive auf „City Cards“ in Clubs, Cafés und Kneipen. Sie sind dekorativ, sollen von der Schönheit der Natur erzählen und vom Kampf der Künstlerin, von Hoffnung und Lebenswillen.
Sie gestaltet auch Karten für den Verein Mentor e.V., der Grundschüler beim Lesenlernen unterstützt, ein Projekt, das ihr am Herzen liegt. Ihr Bewegungsradius ist eingeschränkt, ihr Horizont ist weit. Sie engagiert sich, experimentiert mit neuen Arbeitsweisen, findet Künstliche Intelligenz (KI) sehr spannend.
Rollstuhl blieb auf dem Rollfeld zurück
Kirsten Brandenberg ist auf eine 24-Stunden-Pflege angewiesen und lobt die „total lieben Leute“, die ihr den Alltag im eigenen Zuhause ermöglichen. „Freiheit ist für mich, so zu leben, wie ich es möchte, selbstbestimmt. Im Kopf bin ich ja fit. In eine Wohngruppe will ich nicht.“ Nach dem Tod ihres Mannes, der vor zwei Jahren unter tragischen Umständen starb, hat sich ihre finanzielle Lage verschlechtert. „Da standen meine Tochter und ich mit meiner Rente.“
Sie kämpfte sich auch heraus aus Trauer und Existenzangst. Ohne Familie und Freunde, die sie in ihrer Kunst bestärkt und in tausenderlei Dingen unterstützten, wäre es nicht gegangen. „Sozialkontakte, Selbstständigkeit und positives Denken“, das trage sie. So setzt sie nun ihre „Bucket List“ um, also Wünsche vom nächtlichen Waldspaziergang bis zum Coldplay-Konzert. Beim Barcelona-Trip blieb ihr Rollstuhl auf dem Rollfeld zurück, trotzdem traut sie sich eine Verona-Reise zu: Aida sehen in der berühmten Arena!
Und nun der Gleitschirmflug. Für das technisch wie personell aufwendige Vorhaben sammelt eine Freundin Spenden auf der Plattform Betterplace.
„Freiheit ist für mich, so zu leben, wie ich es möchte, selbstbestimmt. Im Kopf bin ich ja fit. In eine Wohngruppe will ich nicht.““
Dabei muss sie doch schon um alles ringen, was für andere selbstverständlich ist: Jedes Jahr muss ihr ein Arzt bescheinigen, dass sie das Beatmungsgerät noch braucht. Manchmal lässt sie der Busfahrer stehen („zu voll für den Rolli“); nicht immer reicht ihr im Supermarkt jemand etwas aus dem oberen Regal an, und wenn sie ein paar Stunden gearbeitet hat, sind ihre Augen erschöpft. „Manchmal weine ich, dann habe ich schöne Momente.“
In diesem Jahr ist ihre Tochter ausgezogen, lebt und studiert jetzt in Wuppertal. Es ist ein Abschied – und ein kleiner Triumph über die Krankheit: Kirsten Brandenberg hat es geschafft, ihr Kind ins Erwachsenenleben zu begleiten. „Das macht mich so glücklich, und ich bin so stolz auf sie.“
Mehr über Kirsten Brandenberg: www.kirstenbrandenberg.de